Die Flucht aus Mariupol: Todesangst bei jedem einzelnen Schritt...

Raisa (42) und Illia (16) erzählen ihre traumatische Geschichte


  • Kreis Olpe, 09.06.2022
  • Ukraine , Verschiedenes
  • Von Kerstin Sauer
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Bilder wie dieses sind seit Monaten in den Medien zu sehen. Raisa und Illia haben diese furchtbaren Szenen selbst erlebt. von AdobeStock
Bilder wie dieses sind seit Monaten in den Medien zu sehen. Raisa und Illia haben diese furchtbaren Szenen selbst erlebt. © AdobeStock

Kreis Olpe/Ukraine. Es ist Freitag, der 1. April, als sich Andrej, Raisa und Illia entschließen, ihre Heimatstadt Mariupol zu verlassen. Im Gespräch mit LokalPlus durchleben Raisa (42) und ihr 16-jähriger Sohn Illia die grausamen Schrecken jener Tage noch einmal. Und betonen: „Schätzt das, was ihr habt, diese Ruhe und den Frieden. Wir hatten das auch. Jetzt haben wir nichts mehr.“


Eine Flasche Wasser und eine Tasche mit Dokumenten – mehr nimmt die Familie nicht mit, als sie sich auf den Weg in Richtung Küste macht. Im Hafen steht die ukrainische Armee, auf der anderen Seite die russische. Im Kugelhagel robbt die Familie über den Boden. In ständiger Angst, getroffen zu werden. Denn: „Der Gegner nahm alles ins Visier, was Richtung Hafen unterwegs war“, sagt Raisa leise.

Die Familie erreicht den Strand. Es ist kalt und windig, trotzdem kämpfen sich Andrej, Raisa und Illja durch die hohen Wellen, immer weiter von der Stadt weg. Als sie Sandbänke erblicken, hoffen sie, das eisige Wasser zumindest kurzzeitig verlassen zu können. Doch Fischer warnen sie: Die Sandbänke sind vermint. Erst am Vortag habe ein Ehepaar versucht, darüber zu fliehen. Eine Mine riss der Frau die Beine weg, sie verblutete.

Die Drei fixieren jeden Meter, der vor ihnen liegt. Vor allem um ihren Sohn hat Raisa große Angst: „Ich habe immer wieder gesagt: Illia, guck vor dich, sieh genau, wo du hin trittst.“ Die 42-Jährige weint bitterlich bei der Erinnerung an diese schrecklichen Stunden.

Raisa und Illia aus der Ukraine sind vor einigen Tagen in Lennestadt angekommen. Sie machen sich große Sorgen um Ehemann und Vater Andrej, der in der Ukraine bleiben musste. von privat
Raisa und Illia aus der Ukraine sind vor einigen Tagen in Lennestadt angekommen. Sie machen sich große Sorgen um Ehemann und Vater Andrej, der in der Ukraine bleiben musste. © privat

Es dauert lange, bis sie in einem Dorf ankommen. Hier herrscht noch Ruhe. Die Bewohner kommen aus ihren Häusern, begrüßen die drei Flüchtlinge, kümmern sich. Ein Mann drückt Raisa Brot in die Hand. Sie weint: „Zum ersten Mal seit anderthalb Monaten habe ich wieder Brot gesehen.“

Am nächsten Morgen steigt die Familie in einen von insgesamt fünf DRK-Bussen, die von freiwilligen Helfern in Richtung ukrainisch-polnische Grenze gefahren werden. 300 Kilometer sind es, bis die Flüchtenden in Saporischschja und damit in relativer Sicherheit sind. Eine Strecke, bei der sie 18 (!) russische Checkpoints passieren müssen.

18 russische Checkpoints - Kontrolle bis auf die Haut

18 Stationen, an denen sich die Männer bis auf die Haut ausziehen müssen, um nach ukrainischen Militär-Tätowierungen abgesucht zu werden. 18 Stationen, an denen Helfer und Flüchtlinge vor Angst zittern, ob sie diesen Ort lebend verlassen werden. 18 Stationen, an denen sämtliche Handys gefilzt werden.

Jedes Foto wird gelöscht, jeder Chatverlauf kontrolliert. Hauptsache, die Menschen aus Mariupol bringen kein Zeugnis von den grausamen Schrecken in ihrer Heimatstadt aus der Ukraine heraus...

Nach elf Stunden erreichen die Busse den ersten ukrainischen Checkpoint. Die Menschen stehen kurz vor dem Zusammenbruch, ihre Nerven liegen blank nach den unglaublichen Ängsten der vergangenen Stunden. Bei der Erinnerung an diese Stunden bricht Raisa in Tränen aus: „Wir sind den freiwilligen Helfern von Herzen dankbar. Sie riskieren ihr Leben, damit wir überleben. Nur wegen ihnen gibt es die Ukraine noch.“

In Lemberg lernen Raisa (l.) und ihr Mann Andrej (r.) die Helfer Sabine (2.v.l.) und Matthäus aus dem Kreis Olpe kennen. von privat
In Lemberg lernen Raisa (l.) und ihr Mann Andrej (r.) die Helfer Sabine (2.v.l.) und Matthäus aus dem Kreis Olpe kennen. © privat

Irgendwann kommt die Familie in Lemberg an. Und trifft dort auf Sabine und Matthäus von „Lennestadt hilft“. Eine Freundschaft entsteht, die Helfer aus Lennestadt kümmern sich intensiv um die traumatisierte Familie. Das Angebot, mit ihnen nach Deutschland zu reisen, lehnt Raisa anfangs ab: Der Gedanke, sich von ihrem Mann trennen zu müssen, der die Ukraine nicht verlassen darf, ist für sie noch unvorstellbar.

Erst als Matthäus kurze Zeit später noch einmal in die Ukraine, nach Charkiw, reist (LokalPlus berichtete), stimmen Raisa und Illia zu. Und fahren mit nach Deutschland. Der Abschied von ihrem Ehemann bricht der 42-Jährigen das Herz. Doch sie weiß: In der Ukraine haben wir im Moment keine Zukunft, kein Leben.

In der Flüchtlingsunterkunft sind Raisa (l.) und Illia (2.v.l.) erstmal in Sicherheit. Auf der großen Ukraine-Karte zeigt sie, wo Mariupol liegt. Ludmilla aus Charkiw zeigt ihre Heimatstadt. von privat
In der Flüchtlingsunterkunft sind Raisa (l.) und Illia (2.v.l.) erstmal in Sicherheit. Auf der großen Ukraine-Karte zeigt sie, wo Mariupol liegt. Ludmilla aus Charkiw zeigt ihre Heimatstadt. © privat

Seit ihrer Ankunft in Deutschland kämpft Raisa jeden Tag mit dem Gedanken, wieder zurückzufahren in die Ukraine, zu Andrej. Ihr größter Wunsch? „Ich möchte wieder nach Hause.“ Ihr Sohn guckt sie ernst von der Seite an. Und antwortet leise: „In welches Zuhause denn? Das gibt es nicht mehr…“

Während seine Mama zurückblickt und versucht, das Erlebte zu verarbeiten, möchte Illia in Deutschland ankommen. Richtig ankommen. „Ich möchte die deutsche Sprache lernen. Endlich wieder ein vollwertiger Mensch und Teil der Gesellschaft sein.“

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