„Wenn wir dort geblieben wären, dann wären auch wir jetzt tot“

Raisa (42) und Sohn Illia (16) flüchten aus Mariupol


  • Kreis Olpe, 08.06.2022
  • Ukraine , Verschiedenes
  • Von Kerstin Sauer
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Raisa und Illia aus der Ukraine sind vor einigen Tagen in Lennestadt angekommen. Während die Mutter das Erlebte noch verarbeiten muss, spricht der Sohn wenig über die schrecklichen Wochen in Mariupol. von Nils Dinkel
Raisa und Illia aus der Ukraine sind vor einigen Tagen in Lennestadt angekommen. Während die Mutter das Erlebte noch verarbeiten muss, spricht der Sohn wenig über die schrecklichen Wochen in Mariupol. © Nils Dinkel

Kreis Olpe/Ukraine. Es gibt Begegnungen, von denen man schnell weiß: Diese wirst du ein Leben lang nicht vergessen. So wie die mit Raisa (42) und ihrem 16-jährigen Sohn Illia. Die beiden haben, gemeinsam mit Ehemann und Papa Andrej, wochenlang in der bombardierten Stadt Mariupol im Süden der Ukraine ausgeharrt. Unter anhaltendem Beschuss, Not und Elend um sie herum, in ständiger Angst um ihr Leben. Seit ein paar Tagen sind Raisa und Illia in Lennestadt. Und erzählen im Gespräch mit LokalPlus zum ersten Mal von den entsetzlichen Geschehnissen der vergangenen Wochen…


Es ist nicht der erste Krieg, den die kleine Familie erlebt hat. Schon 2014 muss sie wegen des russisch-ukrainischen Krieges mit dem damals achtjährigen Illia aus Donezk im Osten der Ukraine fliehen. Sie entscheiden sich, nach Mariupol zu gehen: Eine Stadt nicht weit von ihrer Heimat entfernt, beliebter Urlaubsort für viele Ukrainer. „Wunderschön“, sagt Raisa bei der Erinnerung an die Hafenstadt mit einem wehmütigen Lächeln.

Ein eigenes Haus in der zweiten Heimat

Auch Illia fühlt sich wohl. Mariupol wird seine Heimat. Acht Jahre lebt die kleine Familie dort, kauft vor zwei Jahren ein eigenes kleines Häuschen. Vater Andrej steckt viel Zeit und Arbeit in dieses Haus, immer mit dem Hintergedanken: Hier möchten wir alt werden.

Ein Wunsch, der sich am 24. Februar 2022 in Nichts auflöst: Die Bombardierung der Hafenstadt beginnt. Explosionen auf dem Flughafen, Kämpfe von beiden Seiten der Stadt mit Granaten, Mörsern und Waffen jeglicher Art prägen von nun an das Leben der Menschen in Mariupol.

Ganze ukrainische Städte werden dem Erdboden gleich gemacht. So wie die einst so schöne Hafenstadt Mariupol: Mehr als 90 Prozent der Stadt sind zerstört. von privat
Ganze ukrainische Städte werden dem Erdboden gleich gemacht. So wie die einst so schöne Hafenstadt Mariupol: Mehr als 90 Prozent der Stadt sind zerstört. © privat

Als am 8. März – es ist ein Dienstag – die ersten Granaten in der Straße einschlagen, benachbarte Häuser in die Luft gesprengt werden, entscheiden sich Andrej, Raisa und Illia, Schutz zu suchen im Theater im Stadtzentrum. „Dort hatten sich schon hunderte von Menschen versammelt. Alle hofften auf Informationen der Regierung, wie wir sicher aus der Stadt kommen.“

Kein Wasser, kein Strom, es stank fürchterlich

Während Raisa erzählt, kommen die Erinnerungen wieder hoch, die sie so lange unter Verschluss gehalten hat. Sie weint, als sie von den entsetzlichen Zuständen in dem Theater berichtet: „Es gab kein Wasser, keinen Strom, kein Mobilfunknetz, keine Verbindung zur Außenwelt. Die Kanalisation hat nicht funktioniert, überall hat es gestunken.“

Bei minus zehn Grad draußen und ohne Heizung frieren die Menschen fürchterlich. Ohne Decken schlafen sie nachts auf dem Boden. Anfangs um die 500 Ukrainer, nach wenigen Tagen war die Zahl auf 1.000 angewachsen, hauptsächlich Kinder, stillende Mütter, Senioren.

Fünf Tage mit 1.000 Menschen im Theater

Fünf Tage harrt die Familie in dem Theater aus. Ohne Pause wird die Stadt weiter bombardiert. Der Flughafen ist ein Ziel, die Geburtsklinik ein anderes. Mit vor Schreck geweiteten Augen erzählt Raisa von Flugzeugen und Bomben, die immer näher kommen, von ohrenbetäubenden Explosionen. Während die Mutter von den Erinnerungen gequält wird, sitzt ihr 16-jähriger Sohn Illia neben ihr und redet kaum. Sie durchlebt die Erinnerungen, er verdrängt sie.

„Wir müssen hier weg“, habe sie ihren Mann und ihren Sohn immer wieder angefleht, während sie im Keller des Theaters saßen. Denn: „Ich wusste: Die nächste Bombe trifft das Theater.“

Hunderte von Menschen sterben

Sie sollte Recht behalten: Nur drei Tage, nachdem die kleine Familie das Theater verlassen hat, um nach ihrem Haus zu sehen, fällt eine Bombe auf das Theater. Mehr als die Hälfte der 1.000 Menschen, die dort Schutz gesucht hatten, stirbt. Raisa weint: „Gesichter, die wir kennen gelernt hatten. Kinder, Mütter. Alle tot.“ Und leise fügt sie hinzu: „Wenn wir dort geblieben wären, dann wären auch wir jetzt tot.“

Knapp zweieinhalb Wochen bleiben Andrej, Raisa und Illia in ihrem Haus, das wie durch ein Wunder noch verschont geblieben ist. 16 Stunden am Tag wird die Hafenstadt bombardiert, sitzt die Familie im Keller, während draußen ihre Stadt dem Erdboden gleich gemacht wird. „Wie ein Survivial-Game“, sagt Illia leise.

Rettet Mariupol: Heute sind mehr als 90 Prozent der einst so schönen Hafenstadt zerstört. von pixabay
Rettet Mariupol: Heute sind mehr als 90 Prozent der einst so schönen Hafenstadt zerstört. © pixabay

Der Putz bröckelt bei den Bombardierungen von der Wand, es gibt nichts mehr zu Essen, kaum Wasser. „Wir haben uns einen Monat lang nicht gewaschen“, erinnert sich Raisa.

Am 1. April fallen Phosphorbomben auf die Stadt – die Bomben, deren Existenz selbst in den Medien nicht bestätigt und von der gegnerischen Seite verleugnet wird. Streubomben mit unterschiedlichen Zündzeiten kommen hinzu. Ein russischer Panzer rollt in das Stadtviertel, in dem nur noch wenige Zivilisten, keine Soldaten, hausen. Ein Haus nach dem anderen nimmt er ins Visier. Auch das von Andrej, Raisa und Illia.

Die Entscheidung: Wir müssen die Stadt verlassen

Als der Panzer abrollt, ist ihr Haus zerstört. Und die kleine Familie weiß: Wir müssen unsere Heimatstadt verlassen.

Morgen im zweiten Teil unserer Reportage: Die lebensgefährliche Flucht aus Mariupol und der Abschied vom Ehemann und Vater – Raisas und Illias „Reise“ nach Lennestadt.

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