Blinder Richter: Entscheiden ohne Ansehen der Person

Dr. André Stahl arbeitet am Amtsgericht Olpe


  • Olpe, 03.02.2023
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  • Von Claudia Wichtmann
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Dr. André Stahl ist Richter am Amtsgericht Olpe und stark sehbeeinträchtigt. von privat
Dr. André Stahl ist Richter am Amtsgericht Olpe und stark sehbeeinträchtigt. © privat

Olpe. Damals, als Kind, wollte Dr. André Stahl Feuerwehrmann werden. Oder Polizist. Doch die Standard-Antwort auf seinen Berufswunsch war immer: Das kannst du doch gar nicht. „Sag, du willst Richter werden. Dann sind die Leute ruhig“, riet ihm seine Mutter. Diesen Rat setzte der von Geburt an stark sehbeeinträchtigte Junge in die Tat um. Er sagte es - und er wurde es: Dr. André Stahl ist heute Richter beim Amtsgericht Olpe.


Justitia, die römische Göttin der Gerechtigkeit, trägt eine Augenbinde. Es ist ein Symbol dafür, dass sie ohne Ansehen der Person entscheidet. Dr. André Stahl gilt als gesetzlich blind, auf einem Auge hat er kein Sehvermögen, auf dem anderen einen minimalen Sehrest. Er entscheidet ohne Ansehen der Person.

Der 34-jährige verlässt sich auf sein Einfühlungsvermögen und sein Gehör, wenn die Menschen sprechen. Als Richter für Betreuungssachen hat er schon viele Schicksale erlebt. Er weiß, wie sich eine Stimme anhört, wenn sie lügt. Er kann Fragen so geschickt stellen und Gespräche so diplomatisch führen, dass er in den Antworten die Wahrheit findet.

In seinem Arbeitsalltag entscheidet Dr. André Stahl über Menschen, die psychisch oder gesundheitlich so stark eingeschränkt sind, dass sie ihre Angelegenheiten nicht selbst regeln können. Wenn nötig auch über Freiheitsentziehung. Eine Assistenzkraft unterstützt ihn dabei, schaut in die Akten, wenn es schnell gehen muss, beschreibt Orte oder Personen. Im Büro liest er die Akten mit Vorleseprogrammen und einem Bildschirmlesegerät.


Kampf um Anerkennung

Der stark sehbeeinträchtigte Richter musste in seiner Jugend und während seines Studiums viel kämpfen. Nicht nur, um seine Ziele zu erreichen, sondern vor allem um Anerkennung. Nur wenige trauen einem Menschen mit so einer Behinderung zu, eine aufwändige Ausbildung abzuschließen, einen eigenen Lebensweg zu bestreiten. „Ich war der einzige aus meiner Jahrgangsstufe, der vor dem Abitur beim Arbeitsamt vorgeladen wurde. Nur wegen meiner Seheinschränkung. Das hat mich sehr geärgert.“

Auch auf dem Arbeitsamt sagt er wieder: Ich werde Richter. „Es war eher der Wunsch nach Anerkennung, als ein echter Berufswunsch“, erzählt er. „Ich hatte immer Sorge, nicht gut genug zu sein und wollte allen zeigen, dass ich es kann.“ Dieses Gefühl hat ihn durchs Studium und seine Dissertation getragen und ihm das nötige Durchhaltevermögen gegeben.

Für Dr. André Stahl mit seiner Sehbeeinträchtigung bedeutete das Jura-Studium viel Kraft und Willen. Lernen mit Hilfsmitteln braucht Zeit und ausgefeilte Techniken, Gesetzestexte sind keine leichte Kost.

Der Beruf wird zur Berufung

Heute weiß er, was er kann. Findet seine Anerkennung in seinem eigenen Schaffen - ohne das Gefühl, anderen etwas beweisen zu müssen. Und er ist sich sicher: Er hat seinen Traumjob gefunden. „Ich bin aus den falschen Gründen genau am richtigen Platz gelandet. Ich bin da angekommen, wo ich hingehöre.“

Seine starke Sehschwäche ist für ihn keine Behinderung. „Eine Einschränkung ohne Schmerzen heißt nicht, dass man kein erfülltes Leben haben kann. Es ist eher die Gesellschaft, die die Einschränkung wahrnimmt und manchmal auch zum Ausschlusskriterium macht.“

Der Richter singt in zwei Chören, geht joggen, fährt Ski und geht hin und wieder ins Stadion, wenn seine Lieblings-Fußballmannschaft Borussia Dortmund spielt. Und fast nebenbei hat er noch ein Buchmanuskript geschrieben - über seine spannendsten Fälle und seinen Weg “von der Förderschule ins Richteramt“.


Leben im Fokus

Dr. André Stahl macht also fast alles, was Sehende auch machen. Er sieht in seiner Sehbeeinträchtigung sogar einen Vorteil. „Mir fällt es leichter, den Fokus zu halten, weil ich weniger Ablenkung durch visuelle Reize habe. Handy- und Social Media Konsum ist für mich zum Beispiel anstrengend. Ich bleibe mehr bei mir und spare mir die Energie für die wichtigen Dinge.“

Die aus der Verzweiflung geborene Aussage „Ich werde Richter“ ist zu einer Lebenseinstellung geworden: Dr. André Stahl ist Richter mit Leib, Seele und Herzblut. Über seinen Beruf hat er zu sich selbst gefunden. Und über seine Sehbeeinträchtigung und sein damit verbundenes feines Gespür für Stimmungen, findet er vielleicht mehr Zugang zu den Menschen, als mancher Sehender.


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