In wenigen Minuten über 50 Jahre älter

Selbstversuch: „AgeMan“ simuliert Altersbeschwerden


  • Lennestadt, 11.06.2016
  • Von Michelle Kalaz
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    Michelle Kalaz

    Redaktion

 von Prillwitz
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Plötzlich war alles so anstrengend, jede Bewegung kostete Kraft und dazu war ich abgeschottet von allem, was um mich herum passierte. Ich konnte nicht richtig sehen oder hören. Das Gefühl, mich auf alles, was ich höre, konzentrieren zu müssen, und diese unglaubliche Anstrengung waren Dinge, die ich bisher nicht kannte. Kein Wunder: Mit Hilfe des Alterssimulators „AgeMan“ war ich in kurzer Zeit um über 50 Jahre gealtert.


Am Dienstag, 7. Juni, fand wie gewohnt von 13.30 bis 15 Uhr das monatliche Angehörigencafé Demenz des Caritasverbandes Olpe statt. Diplom-Sozialpädagogin Tanja Hilden bietet seit April 2015 an jedem ersten Dienstag im Monat ein Treffen im Caritas-Haus Lennestadt an, bei dem sich Angehörige von Demenzkranken bei einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen über ihre Erfahrungen austauschen und sich und anderen Beteiligten weiterhelfen können. Das Angebot ist kostenlos und kann ohne vorherige Anmeldung besucht werden. In jeder Sitzung geht es um ein anderes Thema, beispielsweise um Leistungen der Pflegeversicherung oder Symptome einer Demenz. An diesem Dienstag ging es um das Thema „Alter“ und die körperlichen Einschränkungen, die im Alter auftreten können. Die simulierte der sogenannte „AgeMan“: Dabei handelt es sich um eine mehrteilige Ausstattung, die die Beweglichkeit und Leistungsfähigkeit, z.B. durch zusätzliche Gewichte, beeinträchtigt. Gelenkschoner, eine Weste, die stolze zehn Kilogramm wiegt, eine Hose und eine Jacke, die nochmal jeweils fünf Kilogramm wiegen und einer Halskrause. Kopfhörer und Helm sorgen für ein eingeschränktes Sichtfeld und die Geräuschdämmung. Mit einer von mehreren Brillen, die jeweils eine ausgewählte Augenkrankheit, beispielsweise eine Netzhautablösung simulieren, wird die Sicht und Orientierungsmöglichkeit weiter eingeschränkt. Zwei Paar Handschuhe erschweren zusätzlich die Bewegung der Hände und nehmen den Fingern ihre Sensibilität.
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Plötzlich abgeschottet
Bevor ich selbst den „AgeMan“ testete, hörte ich den Teilnehmern der Gesprächsrunde zu. Sie tauschten ihre Erfahrungen mit demenzkranken Angehörigen aus, gaben sich Tipps und diskutierten. Tanja Hilden moderierte und steuerte Expertenrat bei. Nacheinander probierten die Teilnehmer den „AgeMan“ aus, mit dem Ziel ein besseres Verständnis für Menschen zu bekommen, deren Fähigkeiten im Alter eingeschränkt sind. Eine Teilnehmerin zog nach ihrer Erfahrung mit dem Simulator Parallelen zu ihrem Ehemann. „Er braucht auch immer einige Anläufe, bis er von seinem Stuhl aufgestanden ist“, erklärte die Frau und machte die Bewegungen ihres Mannes nach. Andere Einschätzungen der Teilnehmer: „Die Schwere des Anzuges macht einem am meisten zu schaffen.“, „Durch das Gewicht fühlt man sich beklemmt. Es mangelt an Beweglichkeit und Mobilität.“ Jetzt war ich an der Reihe. Was mich erwartet, wusste ich da noch nicht. Schließlich war ich ja bis jetzt noch nie über 70 Jahre alt. Tanja Hilden half mir, den Alterssimulator anzulegen. Zuerst der Nierengurt, dann weiter mit Gelenkschonern etc., bis ich schließlich in voller Montur im Raum stand und mich erst nicht traute, mich zu bewegen. Die ganzen Gewichte waren ungewohnt. Allein das Stehen war unfassbar anstrengend. Dazu kamen die Sichteinschränkung und die gedämmte Geräuschwahrnehmung. Ich fühlte mich durch all diese Dinge komplett allein, irgendwie abgeschottet von all dem, was um mich herum passierte. Wenn mich jemand ansprach, musste ich mich extrem konzentrieren, um alles zu verstehen.
Kaffeekanne als Herausforderung
Der Aufforderung, mir einen Kaffee auszuschütten, konnte ich nur sehr langsam nachgehen. Nachdem mich das Hinsetzen an den Tisch durch die Gewichte schon unglaublich angestrengt hatte, fiel es mir nicht leicht, die Kaffeekanne aufzuschrauben und mir mit fehlender Bewegungsfreiheit und Feinmotorik eine Tasse Kaffee auszuschütten. Auch mit der Kuchengabel ein Stück Kuchen auf den Teller zu heben, erschien mir plötzlich viel schwerer, da es durch Gewichte und Handschuhe enorm viel Kraft kostete, die Gabel zu heben.
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Als mein eigener Kaffeeklatsch nach der Anstrengung für beendet erklärt wurde, sollte ich zum Abschluss auch noch Treppen laufen. Ich ging also in den Flur. Natürlich sehr langsam und vorsichtig. Die Treppe runter zu steigen, war für mich nicht so schwer wie das Hochsteigen. Durch das Gewicht und meine eingeschränkte Sicht schwankte ich plötzlich stark nach rechts, als ich mein Bein gehoben hatte, um die nächste Stufe zu erreichen. Es dauerte einen Moment, bis ich mein Gleichgewicht wieder unter Kontrolle hatte. Ich stieg den Rest der Treppe hoch und war danach völlig erschöpft.
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Anstrengend, aber lehrreich
Tanja Hilden brachte mich wieder in den Raum, aus dem wir gekommen waren und befreite mich nach dieser Anstrengung endlich aus meinem „Kostüm“ und nahm mir so auch 52 Jahre Last von den Schultern. Ich merkte, dass mein Nacken von der schweren Weste schmerzte, ich fühlte mich aber auf einmal wahnsinnig frei und ich war irgendwie glücklich, mich so bewegen zu können, wie ich es wollte und wieder alles sehen und hören zu können. Es war, als wäre ich wieder mitten im Geschehen, nachdem ich durch den „AgeMan“ einige Zeit in meiner eigenen kleinen Welt eingesperrt gewesen war. Den Tag, an dem ich für ein paar Minuten über 70 Jahre alt war, werde ich wohl so schnell nicht vergessen. Durch dieses Experiment habe ich einige Einblicke in das Leben einer älteren Person mit verschiedenen körperlichen Einschränkungen gewonnen. Ich kann deren Bewegungsabläufe und Reaktionen auf die Umwelt und Mitmenschen jetzt besser nachvollziehen. Gerade das Gefühl, abgeschottet zu sein von allem, was um einen herum passiert, und einfach nicht mehr so zu können, wie man gerne würde, werde ich wohl nie vergessen. Ich habe jetzt auf jeden Fall deutlich mehr Verständnis dafür, wenn ältere Leute beispielsweise vor mir auf der Treppe oder an der Supermarkt-Kasse etwas länger brauchen. Und ich bin überzeugt davon, dass der eine oder andere sich über erhöhte Hilfsbereitschaft im Alltag sicherlich freuen würde.
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