„Wir riskieren unsere Gesundheit, damit der Laden am Laufen bleibt“

Interview mit der Leiterin eines Supermarktes


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Kreis Olpe. Kein Dankeschön, kein Respekt: Beschäftigten im Lebensmitteleinzelhandel fehlt es zur Corona-Krise im gesamten Bundesgebiet an Wertschätzung und Anerkennung. Im Interview erzählt eine Leiterin eines Supermarktes in Wenden vom alltäglichen Chaos.


Auch wenn bereits die Schulen und Kindergärten sowie viele Büros und Gastronomiebetriebe im Kreis Olpe geschlossen wurden, bleiben die Supermärkte weiterhin geöffnet. Wie hat sich der Arbeitsalltag im Einzelhandel seit Corona verändert? LokalPlus sprach exklusiv und anonym mit der Leiterin einer Wendender Supermarktfiliale.

Wie hat sich Ihr Arbeitsalltag seit der Corona-Pandemie verändert?

Auf jeden Fall wesentlich stressiger. Ich habe wenig Schlaf, denn ich muss viel mehr Überstunden machen und wenn ich zu Hause bin, dann falle ich sofort ins Bett. Jeder Arbeitstag ist seit der Corona-Krise von der Arbeitsbelastung und dem Andrang her wie einen Tag vor Heiligabend.

Und es ist eine psychische Belastung, weil die Kunden durchdrehen. Im Laden bemerkt der Kunde es nicht, aber sobald man an der Kasse sitzt, ist der Druck vor dem Kunden und die Angst vor Corona zu spüren. Die Kunden werden mit jedem Tag unfreundlich und beschimpfen einen. Ich muss mich gefühlt für jedes fehlende Blatt Toilettenpapier rechtfertigen.
Ältere Mitbürger gingen leer aus
Was meinen Sie mit "die Menschen drehen durch"?

Ganz am Anfang meinten sie, ‚je mehr wir kaufen, umso besser geht es uns‘ – sie haben ja wirklich gekauft wie die Weltmeister. Aber jetzt seit Montag gibt es in fast jedem Laden die Regelung der haushaltsüblichen Mengen. Es waren meist die Jüngeren, nicht die Älteren. Ein Teil der Älteren, die auch nicht so mobil sind, haben stark nachgefragte Lebensmittel und Produkte nicht mehr erhalten. Und in dieser Woche gingen viele ältere Mitbürger leer aus.

Was bedeutet haushaltsübliche Mengen? Wer bestimmt, was haushaltsüblich ist und wie reagieren die Kunden darauf?

Es gibt zum Beispiel bei Toilettenpapier zwei Packungen. Es geht dabei auch um Kaffee, Mehl, Zucker und gefragte Güter. Das ist die Reaktion auf die Engpässe und das Hamstern.

Wir hatten mehrere Kunden, die 20 Packungen Mehl kaufen wollten. Und auf Nachfrage sind alle auf einmal Gastronomen in Wenden. Und wenn wir das anzweifeln – Gastronomen haben ja jetzt bekanntlich zu –, werden wir dumm angemacht. Leider wurde eine Kollegin in der vergangenen Woche auch angegriffen. Deswegen sage ich, die Kunden drehen durch.
Ein Lkw mit Toilettenpapier in nur einer Woche
Ist in den nächsten Wochen mit Engpässen zu rechnen?

Wenn die Kunden aufhören zu hamstern, nein. Zum Beispiel erhalten wir montags Pflegeprodukte und freitags Spirituosen. Wenn wir Mittwoch keine Pflegeprodukte mehr haben, können wir nichts tun, als auf Montag zu warten. Toilettenpapier ist bei uns eine Kategorie von Produkten, die wir jeden Tag nachbestellen – ob es dann aber am nächsten Tag auch ankommt, wissen wir nicht. Denn auch unsere Lieferanten haben Engpässe.

Es ist schwierig an gewisse Güter wie Toilettenpapier ranzukommen, weil die Lieferkette nicht mit der Nachfrage in einer Krisenzeit mithalten kann. Wir wissen bei vielen Produkten nicht, ob sie morgen kommen oder nicht. Auch wenn gesagt wurde, es gibt keine Engpässe, warten wir bis zu einer Woche, bis das Produkt wieder verfügbar ist.

Hinzu kommt, dass wir alle die gleichen Lieferanten haben. Wir haben innerhalb einer Woche einen kompletten Lkw voll mit Toilettenpapier verkauft – ein Umsatz, den wir ansonsten auf eine viel längere Zeit strecken würden. Die Kunden müssen aufhören zu hamstern, damit der Einzelhandel sich normalisieren kann.
Scheibe zwischen Kunde und Kassiererin?
Wie schützen Sie sich vor Corona?

In einer Schicht haben wir mit bis zu 800 Einkäufen pro Kasse zu tun. Da aber nicht jeder Einkauf alleine getätigt wird, haben wir pro Schicht mit mehr als 1.000 Menschen zu tun – Tendenz steigend, da nun Schulen und Kitas geschlossen haben und viele Eltern ihre Kinder mit zum Einkauf nehmen müssen.

Ich selber habe keine Angst vor Corona – aber das sieht jeder Kollege anders. Ich selber trage grundsätzlich aus Hygienegründen Handschuhe – mit einem Mundschutz arbeite ich aktuell noch nicht. Ansonsten desinfiziere ich mir so gut wie möglich meine Hände an der Kasse.

Aktuell diskutieren wir, eine Scheibe an der Kasse zwischen Kunde und Kassiererin zu setzen. Wenn eine Kollegin oder ein Kollege krank wird, müssen wir den Laden dicht machen. Deswegen ist es wichtig, dass infizierte oder kränkliche Mitbürger zu Hause bleiben. Um uns zu schützen – denn wir riskieren unsere Gesundheit, damit der Laden am Laufen bleibt. Am Ende des Tages habe ich mir bewusst diesen Job ausgesucht, denn ich mache es mit Leidenschaft.
Kunden belächeln die Situation
Haben Sie das Gefühl, dass Sie im Einzelhandel zu wenig Wertschätzung erhalten?

Wir sind in der Situation, uns bei jedem Kunden rechtfertigen zu müssen – und das x-mal am Tag. Die Kunden nehmen es für selbstverständlich, dass wir uns dieser Gefahr aussetzen. Leider belächeln sie unser Klagen, wenn wir sie zu Abstand auffordern. Ich merke, dass viele die Gesamtsituation nicht ernst nehmen. Viele verstehen nicht, was heute alles auf dem Spiel steht. Es ist wichtig, dass sich Kunden an die Klebestreifen an den Kassen halten und mindestens eineinhalb Meter Abstand halten. Es wäre auch ratsam, wenn möglich, mit EC-Karte zu bezahlen und das Bargeld zu Hause zu lassen.

Ich habe Angst, dass unsere Supermärkte im Falle einer Ausgangssperre zu Treffpunkten werden. Wenn den Leuten im Falle einer Ausgangssperre langweilig wird und sie nur noch das Einkaufen als Grund für den Ausgang haben, dann werden die Supermärkte im Kreis Olpe zu Hotspots des Zusammenkommens und des Corona-Virus. Das muss unter allen Umständen verhindert werden, um den Einzelhandel am Leben zu erhalten. Daher sollten wir den Empfehlungen des Robert-Koch-Instituts und der Bundesregierung folgen und einfach mal zu Hause bleiben.

Was möchten Sie den Kunden im Kreis Olpe mit auf den Weg geben?

Freundlichkeit und Dankbarkeit sind eine Sache. Das ist aber nach zwei Wochen schnell vergessen. Viel wichtiger ist, dass wir daraus lernen. Der Einzelhandel und jede einzelne Kassiererin sind ein wichtiger Teil unserer Gesellschaft. Was wird aus den Überstunden, die wir alle nun leisten müssen? Werden wir endlich einen angemessenen Lohn erhalten?

Viele von uns sind in Teilzeitbeschäftigungen angestellt und können nicht aufstocken. Das bedeutet besonders für Frauen oft Altersarmut. Wir sind keine studierten Ärzte, aber wir müssen nicht studiert haben, um eine körperlich und geistig anspruchsvolle und komplexe Arbeit leisten zu können. Es ist schon lange fällig, dass wir die entsprechende Entlohnung und Anerkennung erhalten. Viele Bürger würden keinen Monat im Lebensmitteleinzelhandel aushalten – schon gar nicht während der Corona-Krise.
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