Der Kampf mit einem Loch im Herzen

Jennifer Münder versorgt ihr krankes Baby als alleinerziehende Mutter zu Hause


  • Finnentrop, 24.12.2016
  • Von Sven Prillwitz
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Jennifer Münder mit ihrem Sohn John Liam. von Sven Prillwitz
Jennifer Münder mit ihrem Sohn John Liam. © Sven Prillwitz

Altfinnentrop. Mehrere Kabel und Plastikschläuche geben Jennifer Münder in ihrer kleinen Wohnung in Altfinnentrop ihre Bewegungsfreiheit vor. Die Kabel gehören zu einem EKG-Gerät mit Monitor, die Schläuche zu einem High-Flow-Atemtherapiegerät. Beide Apparate sind mit ihrem sieben Monate alten Sohn verbunden, kontrollieren seine Vitalfunktionen bzw. sollen ihm das Atmen erleichtern. Rund um die Uhr sind die Geräte in Betrieb, weil John Liam als Frühchen und mit einem Loch in der Herzscheidewand zur Welt kam, einem sogenannten „Ventrikelseptumdefekt“ (VSD). Ihn zu Hause zu betreuen und zu versorgen, ist seit über drei Monaten ein Fulltime-Job für die alleinerziehende Mutter.


Alle zwei Tage und insgesamt acht Stunden pro Woche kommt professionelle Unterstützung aus Halberbracht. An diesem Dienstag vor Heiligabend ist es Andrea Hesse, die für den ambulanten Kinderkrankenpflegedienst „Regenbogen“ bei Jennifer Münder und ihrem Sohn vorbeischaut. Die Frauen kennen sich, duzen sich, lachen viel. Vertrautheit liegt in der Luft. Die leichte Anspannung, die während der Begrüßung noch auf Jennifer Münders Gesicht zu sehen ist, verfliegt umgehend, als Andrea Hesse das sieben Monate alte Baby untersucht und schließlich sagt: „Seine Lunge ist frei, da ist nichts.“
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Wenn Hesse oder eine der beiden anderen Kinderkrankenschwestern von „Regenbogen“ da sind, bedeutet das Sicherheit. Und immer auch eine kurze Verschnaufpause für Jennifer Münder. „Dann kann ich mal kurz abschalten, mal einkaufen oder duschen gehen und ein bisschen Zeit für mich haben“, sagt die 29-Jährige.

Dann blickt sie auf den Infusionsständer mit dem EKG-Gerät und dem Korb für das High-Flow-Gerät, zeigt auf die Schläuche und Kabel und ihren damit verbundenen Sohn. „Meine Bewegungsfreiheit ist auf einen Radius von maximal drei Metern begrenzt“, sagt sie. Weil das Wohnzimmer der größte Raum ihrer kleinen Wohnung ist, verbringt sie hier den Großteil ihrer Zeit. „Ich bin hier gewissermaßen seit über drei Monaten gefangen, aber ich bereue das nicht und bin niemand, der sich in Selbstmitleid suhlt“, erklärt sie. Eine Spur von Erschöpfung dringt dabei durch ihre freundlich-fröhliche Miene.
Komplikationen in der 28. Schwangerschaftswoche
Bis zur 28. Woche verlief ihre Schwangerschaft problemlos. Dann, bei einer weiteren Vorsorgeuntersuchung Mitte Mai, „fiel die Welt plötzlich zusammen“, sagt die 29-Jährige. Sie wurde umgehend in eine Kinderklinik in Lüdenscheid eingeliefert. In der zweiten Nacht dort teilte ihr ein Arzt mit, dass sich die Herztöne des Kindes dramatisch verschlechtert hätten und ein Kaiserschnitt umgehend erforderlich sei. In einem Rettungswagen wurde sie ins Jung-Stilling-Klinikum in Siegen gebracht, wo ihr Sohn schließlich das Licht der Welt erblickte. Wegen der äußerst frühen Geburt und des Lochs in der Herzscheidewand war er die ersten Tage in einem kritischen Zustand. Nach zehn Tagen wurde er in die DRK-Kinderklinik in Siegen eingeliefert, verbrachte hier die ersten drei Monate im Inkubator und den vierten im Wärmebett.
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Bei einem Ventrikelseptumdefekt handelt es sich um den häufigsten aller angeborenen Herzfehler. Durch das Loch wird sauerstoffreiches Blut aus dem Herz- in den Lungenkreislauf gepumpt. Die Folge: eine unnötige Mehrbelastung für Herz und Lunge, die je nach Schwere des Defekts die Lebenserwartung des Betroffenen erheblich reduzieren kann. Babys haben zudem Schwierigkeiten bei der Nahrungsaufnahme und sind sehr klein und dünn.
Nahrungsaufnahme als Herausforderung
John Liam bricht der Schweiß aus. Ein Zeichen dafür, dass er sich sehr angestrengt hat. Kein Wunder: 50 Milliliter der besonders kalorienreichen Anfangsmilch hat er soeben aus dem Fläschchen getrunken, das ihm Andrea Hesse gehalten hat. Er würgt kurz, behält die Milch aber drin. Ein gutes Zeichen, zumal er sich zuletzt häufiger nach dem Essen erbrochen habe, sagt Jennifer Münder. Die restlichen 40 Milliliter der Mahlzeit werden dem Baby kurz darauf durch eine Magensonde verabreicht, durch die John Liam auch mit Medikamenten versorgt wird. Fünfmal am Tag wird er mit je 90 Millilitern Milch gefüttert – durch den Mund und die Sonde. Fünfmal am Tag eine echte Herausforderung.
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Und nicht die einzige. Weil sie ihren Sohn ständig im Auge behalten muss, schläft sie wenig, erzählt Jennifer Münder. Mittlerweile kommt sie mit Unterbrechungen auf sieben Stunden pro Nacht. In der Anfangszeit waren es höchstens zwei. Dreimal musste sie ihm in höchster Not zudem eine neue Magensonde legen.

Eine andere Option als die Betreuung ihres Sohnes in den eigenen vier Wänden gab es aber nicht für sie. Das stellt Jennifer Münder auch klar. Bis zu elf Stunden täglich verbrachte sie in den ersten vier Monaten nach John Liams Geburt in der DRK-Kinderklinik in Siegen. Dann absolvierte sie einen Reanimationskurs, „weil ich nach Hause wollte“. Die Kinderklinik und ein Kinderarzt bewilligten Unterstützung durch den „Regenbogen“-Pflegedienst. Jennifer Münders Eltern und ihre Schwester helfen ebenfalls, so oft sie können.
Von 460 auf 4300 Gramm
Ihre Schwester ist dabei, als an diesem Dienstagvormittag die „Stunde der Wahrheit“ schlägt, wie Andrea Hesse es nennt, als sie das Baby, mittlerweile seiner Kleidung entledigt, im Wohnzimmer auf die Waage legt. „Was schätzt ihr?“, fragt die Pflegerin die beiden Schwestern. Beide sind mit ihren Tipps nah dran, liegen aber beide knapp unter dem Wert von exakt 4300 Gramm. Ein leises Raunen geht durch den Raum, Jennifer Münder und ihre Schwester freuen sich. Ein guter Wert, wenn auch noch unterhalb des Idealgewichts von fünf bis sechs Kilogramm.
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Und dennoch eine deutliche Steigerung, denn bei seiner Geburt wog John Liam gerade einmal 460 Gramm und war lediglich 26,5 Zentimeter groß. Was allerdings nicht dem VSD, sondern einer Plazenta-Insuffizienz geschuldet war. Zum Vergleich: Normalerweise wiegen Babys nach sieben Monaten rund 1000 Gramm. „Er ist ein Kämpfer und hat es bis hierhin ohne Behinderung geschafft“, sagt Jennifer Münder und lächelt. „Jetzt schafft er auch noch den letzten Schritt.“
Herz-OP soll Leiden beenden
Bald soll John Liam in einer Klinik in Bad Oeynhausen am Herzen operiert werden. Ein Termin steht noch nicht fest. Bei der OP soll ein Chirurg das Loch in der Herzscheidewand verschließen. Wenn alles gut geht, muss John Liam danach eventuell noch einige Wochen mit Medikamenten versorgt werden, wäre aber herzgesund und körperlich und geistig uneingeschränkt leistungsfähig. Lediglich die Funktion der Herzkammern müsste er immer mal wieder kontrollieren lassen.

„Es wäre das Nonplusultra, was sich alle wünschen“, sagt Jennifer Münder. Für sie und ihren Sohn wäre es ein nachträgliches Weihnachtsgeschenk und würde die Vorfreude auf das frohe Fest im kommenden Jahr erheblich steigern: Das könnten beide dann nämlich ohne Kabel und Schläuche verbringen.
Kurz und knapp: Regenbogen
  • Bei „Regenbogen“ handelt es sich um einen überregional tätigen ambulanten Kinderkrankenpflegedienst mit Hauptsitz in Lennestadt-Halberbracht. Heide Weber ist Gesamtleiterin des Pflegedienstes, der im Jahr 2000 gegründet wurde.
  • Mehr als 100 examinierte und berufserfahrene Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/innen sind in den Kreisen Olpe, Warendorf und Hamm sowie Hochsauerlandkreis, Märkischer Kreis und Oberbergischer Kreis im Einsatz. Seit kurzem gibt es in Meschede zudem das „Regenbogenhaus“, eine Wohngemeinschaft für junge Erwachsene mit intensivem Pflegebedarf.
  • Im Kreis Olpe arbeiten 18 Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger/innen für „Regenbogen“ im Außendienst. Zwei weitere Angestellte sind im Büro in Halberbracht tätig und kommen bei Bedarf ebenfalls in der häuslichen Krankenpflege zum Einsatz.
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