Zweifel – vor, während und nach dem Urteil

„Terror“: Volontärin Tine Schmidt im Selbstversuch


  • Lennestadt, 17.01.2017
  • Von Christine Schmidt
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Volontärin Tine Schmidt muss sich entscheiden: Unschuldig oder schuldig. von Christine Schmidt
Volontärin Tine Schmidt muss sich entscheiden: Unschuldig oder schuldig. © Christine Schmidt

Meggen. Die Klärung der Schuldfrage steht im Mittelpunkt des Theaterstücks „Terror“ von Ferdinand von Schirach. Die Zuschauer entscheiden. Im Oktober zeigte die ARD die Verfilmung des Gerichtsprozesses, telefonisch und online konnte das Publikum das Urteil fällen. Das TV-Experiment sorgte für Aufsehen und Diskussionen. Am Montagabend, 16. Januar, wurde das Theaterstück im PZ Meggen gezeigt. LokalPlus-Volontärin Tine Schmidt saß im Publikum. Wie sie entschieden hat und warum Zweifel an dem Urteil bleiben, schildert sie aus ihrer Perspektive im Selbstversuch.


Die Ausgangslage: Major Lars Koch, Kampfjetpilot der Bundeswehr, steht vor Gericht. Angeklagt ist er des 164-fachen Mordes. Am 26. Mai 2013 hat Koch den Befehl erhalten, einen vollbesetzten, von Terroristen gekaperten Airbus vom Kurs abzudrängen, was ohne Erfolg bleibt. Ziel der Terroristen ist es, den Airbus in die ausverkaufte Münchner Allianz-Arena stürzen zu lassen, in der 70.000 Zuschauer dem Länderspiel Deutschland gegen England entgegenfiebern. Koch schießt das Flugzeug schließlich ab. In der Pause des Theaterstücks, das den Gerichtsprozess zeigt, müssen die Zuschauer dann entscheiden.

Für mich ist schon vorher klar: Dieser Mann ist unschuldig. Als Held würde ich ihn vielleicht nicht bezeichnen, aber er hat mit dem Abschuss der Passagiermaschine eine Katastrophe verhindert Als ich in das Theater der Stadt Lennestadt gehe, höre ich im Foyer schon die ersten über das Stück reden. Ein paar Frauen laufen an mir vorbei und sind sich einig, dass sie sich schon ein Urteil gebildet haben – so wie ich.
 von Promo Bernd Boehner
© Promo Bernd Boehner
Im Theaterraum ist das Bühnenbild schon aufgebaut: Ein klassischer Gerichtssaal, allerdings ganz spartanisch. Stühle, Tische, das war es dann schon so ungefähr. Da ich in der ersten Reihe sitze und sowieso hochschauen muss, wirkt das Gesamtbild etwas bedrohlich auf mich, vielleicht auch eher kalt. Während ich mich in den Reihen hinter mir so umgucke, lachen die Besucher und unterhalten sich amüsiert – noch.

Die Aufführung beginnt. Nacheinander werden Zeugen befragt und auch der Angeklagte. Lars Kochs Vorgesetzter wird als erster von der Staatsanwältin befragt. Dabei stellt sich heraus, dass es ein Zeitfenster von rund 50 Minuten gegeben hat, in dem man die Allianz Arena hätte räumen können. Ich stutze. Das ist doch die erste Idee, die einem bei einem geplanten Terroranschlag in den Sinn kommt – die Menschen in Sicherheit zu bringen. Es stellt sich heraus, dass das niemand veranlasst hat. Begründung: Alle hätten gewusst, dass der Pilot des Kampfjets den Airbus notfalls abschießen würde. Also haben in meinen Augen auch die Vorgesetzten eindeutig versagt.

Der Angeklagte wird in den Zeugenstand gerufen. Auf mich macht der Pilot die ganze Zeit schon einen seltsamen Eindruck, obwohl er bislang kaum etwas gesagt hat. Ein ganz starrer Blick, er verzieht keine Miene und hat eine selbstsichere Haltung. Trotzdem bin ich immer noch auf seiner Seite. Durch die Fragen von Richter und Staatsanwältin wird mir dann bewusst, dass er den Befehl, nicht auf das Flugzeug zu schießen, einfach ignoriert hat. Der Kampfjet-Pilot hatte lediglich die Anweisung, die Maschine abzudrängen und – wenn das ohne Erfolg bleibt –, einen Warnschuss abzugeben.
Eine letzte SMS zum Abschied
Kurz darauf falle ich aus allen Wolken. Major Koch behauptet tatsächlich, dass die Passagiere doch selbst schuld seien, dass sie sterben mussten. Schließlich hätten sie ja eingewilligt, in den Flieger zu steigen und wären das Risiko somit selbst eingegangen. Unfassbar, denke ich mir nur. Schade, dass es so dunkel ist, ich würde zu gerne die anderen entsetzten Gesichter sehen.

Eine weitere Zeugin wird aufgerufen, Frau Meiser. Sie hat an dem Tag des Unglücks ihren Mann verloren, der in diesem Flugzeug saß. Dass mir eine schauspielerische Leistung bei einer Theateraufführung einmal so nahe geht, hätte ich nicht gedacht. Sie erzählt, dass sie eine SMS von ihrem Mann aus der Maschine bekommen habe. „Das Flugzeug wurde von Terroristen entführt, wir versuchen die Cockpittür aufzubrechen. Mach dir keine Sorgen, wir schaffen das schon, ich liebe dich.“ Das stand sinngemäß in der Nachricht. Ich sitze da und habe Gänsehaut. Unter Tränen erzählt sie, dass der Familienvater eine kleine Tochter zurücklasse und das Mädchen gefragt habe, was denn im Sarg sei, wenn der Papa nicht da wäre. Ich muss erstmal tief durchatmen. Die Familie tut mir unfassbar leid. Mein Freund guckt mich daraufhin nach dem Motto „Hast du geweint?“ an.
 von Christine Schmidt
© Christine Schmidt
Toll, jetzt bin ich hin- und her gerissen. Eigentlich hat Lars Koch unschuldige Menschen getötet. Und er konnte ja auch nicht wissen, ob die Passagiere es doch noch schaffen, die Terroristen zu überwältigen. Trotzdem hat er aber doch mehrere Menschenleben gerettet. Für mich hören sich plötzlich beide Seiten plausibel an.

Aber darf man ein Leben gegen ein anderes abwägen? Kommt es dabei auf die Zahl an, sprich: Sind 100 Menschenleben beispielsweise gegen das eines Einzelnen mehr wert? Die Staatsanwältin sagt definitiv nein. In der deutschen Verfassung steht, dass der Staat nicht berechtigt ist, viele Menschenleben gegen ein einzelnes abzuwägen. Jedes Leben ist gleich wertvoll, und jeder Mensch besitzt die gleiche Würde. Die Staatsanwältin erklärt, dass es doch genau deshalb Gesetzte gebe: um in schwierigen Situationen die richtige Entscheidung treffen zu können. Recht und Moral müssten getrennt werden.
Wie soll ich mich entscheiden?
Das Plädoyer der Staatsanwältin ist für mich so nachvollziehbar. Gesetze, unsere Verfassung, Leben abwägen – alle diese Argumente sind so stark, die Frau hat in meinen Augen recht. Also stehe ich vor einem Problem: Ich weiß absolut nicht, wie ich mich entscheiden soll. Als ich in der Pause auf dem Weg ins Foyer bin, höre ich von allen Seiten, wie die Leute diskutieren. „Ganz schön heftige Sache“, höre ich eine Frau sagen.

Ein Mann sagt mir ganz selbstsicher, dass er für unschuldig stimmen werde, denn der Pilot habe schließlich eine Katastrophe verhindert. Die Frau, die mit ihm in einer Runde steht, plädiert dagegen für schuldig, da er den Befehlt missachtet und das Gesetz gebrochen habe. Natürlich wollen sie auch von mir wissen, wie meine Entscheidung lautet. Gute Frage. Ich denke, ich stimme für schuldig, bin mir aber im selben Moment nicht mehr so sicher.
 von Christine Schmidt
© Christine Schmidt
Die Pause ist vorbei. Jetzt heißt es, sich für ein Tor zu entscheiden, für „schuldig“ oder „unschuldig“. Ich entscheide mich für schuldig. Das Schicksal der Frau und ihrer Tochter, das Töten Unschuldiger, aber auch dass der Pilot sich dem Grundgesetz widersetzt hat, sind für mich Grund genug. Dennoch bin ich von meinem Urteil nicht zu 100 Prozent überzeugt. Am liebsten hätte ich mich vor der Entscheidung gedrückt.

Der Richter verkündet das Urteil des Publikums: Lars Koch wird im PZ Meggen an diesem Abend für unschuldig erklärt. Dafür haben 245 Zuschauer gestimmt, 106 haben auf schuldig plädiert. Mit diesem eindeutigen Ergebnis, aber auch mit der Entscheidung, Lars Koch für unschuldig zu erklären, hätte ich nicht gerechnet. Im selben Moment zweifle ich an meiner Entscheidung. Vielleicht hätte ich bei meiner anfänglichen Meinung bleiben sollen? Vielleicht hätte ich auch einfach nicht mit anderen sprechen und mich etwas beeinflussen lassen sollen. So oder so: Es ist eine sehr schwierige Entscheidung gewesen, auch wenn es sich nur um einen fiktiven Fall handelt. Zum Glück muss ich in der Realität nicht solch schwierige und komplexe Entscheidungen treffen zu müssen.
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