„Kinder sind unsere Zukunft und jede Investition in ihre Bildung ist goldwert“

Vor der Bundestagswahl 2017: Nezahat Baradari, SPD, im Interview


Nezahat Baradari, SPD. von © bernhardt-grafie
Nezahat Baradari, SPD. © © bernhardt-grafie


Ihr Wahlkampf-Slogan lautet „Der Mensch im Mittelpunkt“. Bitte erklären Sie das in einigen Sätzen.

Politik sollte für den Dienst am Menschen bestimmt sein. Egal ob im Breitbandausbau, Wirtschaft, Sicherheit, Umwelt, der Europa- oder Gesundheits- und Arbeitspolitik muss vorrangig das Wohl der Menschen stehen. Der Mensch ist unser Richtwert.

Der ländliche Raum –und damit auch Südwestfalen und der Wahlkreis 149– steht angesichts des demografischen Wandels vor mehreren großen Herausforderungen. Eine davon ist die Flucht junger Menschen vom Land in die Ballungszentren und Großstädte. Wie lässt sich das verhindern?

Wir müssen wettbewerbsfähig sein für die Zukunft, in dem wir zukunftsträchtige Investitionen in Breitband, Verkehrsausbau, Ausbau von Kindergarten- und Ganztagsplätzen, Schulen und Gesundheitsdienstleister tätigen. Das kulturelle, sportliche und kreative Angebot sollte vergrößert werden.
Ausbau der L 512 vorantreiben
In Sachen Digitalisierung und schnelles Internet hinkt der Kreis Olpe hinterher. Der geförderte Breitbandausbau beginnt frühestens im Februar 2018. Muss sich die Wirtschaft im Kreis Olpe Sorgen machen, weiter wichtige Zeit zu verlieren oder womöglich sogar abgehängt zu werden mit Blick auf die stetig weiter voranschreitende Digitalisierung?

Erste Schritte sind gemacht für das Ziel ein flächendeckendes Angebot von 50 Mbits/sec. pro Haushalt bzw. von 100 Mbits/sec. für Unternehmen zu erreichen. Allerdings sollte diese Möglichkeit genutzt werden, um gleich in Glasfasernetze zu investieren, zumal die baulichen Maßnahmen sowieso in vollem Gange sind. Meiner Meinung nach wird hier nicht weit genug gedacht.

Was braucht die Wirtschaft in Südwestfalen außerdem, um ihren Status als drittstärkste Region Deutschlands halten und ausbauen zu können?

Sie braucht definitiv neben Gigabitnetzen den Ausbau der Verkehrswege! Neben dem sechsspurigen Ausbau der A45, sollte unbedingt der Ausbau der L 512 endlich vorangetrieben werden unter Beachtung des Umweltschutzes. Bezahlbarer Wohnraum, ein flächendeckendes Angebot von Kindergärten, Schulen und Ganztagsschulen, eine gute medizinische und pflegerische Versorgung sind notwendige Angebote, damit Unternehmen
im ländlichen Gebiet als Standort für Arbeitssuchende attraktiv bleiben. Der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs ist für die Mobilität der Arbeitnehmer und ihrer Familien von enormer Wichtigkeit. Nur wenn auf mehreren Gebieten durchgreifende Veränderungen geschehen, können wir diese komplexen Aufgaben lösen.
Sichere Rahmenbedingungen in der Pflege
Wie lässt sich die medizinische, hausärztliche und pflegerische Versorgung auf dem Land
sicherstellen?

Auf diesem Gebiet ist leider lange Zeit nicht gehandelt worden. In den nächsten fünf bis zehn Jahren ist mit einem massiven Hausarztmangel zu rechnen. Selbst wenn jetzt Maßnahmen ergriffen werden, braucht es mindestens elf Jahre bis ein Facharzt ausgebildet worden ist. Die Attraktivität der hausärztlichen Versorgung muss gesteigert werden. Hierfür braucht es neben einer besseren Vergütung im ambulanten Bereich auch guter Rahmenbedingungen wie günstige Mieten für Gesundheitshäuser für niedergelassene junge Ärzte und junge Gesundheitsdienstleister. Stipendien für Medizinstudenten mit Verpflichtung für die Landarztätigkeit, mehr Studienplätze, eine Lockerung des numerus clausus, Wegfall der Budgetierungen und eine ernsthafte Entbürokratisierung und Lockerung der Regularien in der Niederlassung sind weitere Notwendigkeiten. Im Bereich der Pflege braucht es sichere Arbeitsrahmenbedingungen wie unbefristete Verträge, eine Gleichzahlung von Altenpflege und Krankenpflege, verbindliche und gute Personalschlüssel sowie eine höhere Entlohnung.

In einem Kommentar hat Harald Freiberger von der Süddeutschen Zeitung vor kurzem ein Gefälle zwischen boomenden Städten und der „verödenden“ Provinz beklagt. Seine Forderung für die Zeit nach der Bundestagswahl: ein „nationaler Pakt für die Entwicklung der ländlichen Gebiete“, u.a. für Unterhalt und Ausbau öffentlicher Straßen und des Nahverkehrs, für Digitalisierung und für die Schulen und Kindergärten. Wie bewerten Sie diese Forderung?

Diese Forderung ist korrekt. Sie sollte die finanzielle kommunale Entlastung allgemein umfassen. Die Bundes-, Landes- und kommunalen Ebenen sollten besser miteinander arbeiten und bürokratische Hemmnisse abgebaut werden. Das sogenannte Kooperationsverbot sollte aufgehoben werden, damit Bundesfinanzmittel direkt zu den Kommunen fließen können, insbesondere im Bereich der Schulen. Die Kommunen, die in der Haushaltssicherung sind, sollten angemessen unterstützt werden.
„Bildung ist unsere stärkste Waffe“
Stichwort Bildung, Stichwort Ausfall von Unterrichtsstunden. Brauchen wir mehr und besser
qualifizierte Lehrer?

Definitiv! Immer wieder fallen Unterrichtsstunden aus und ständig wechselnde Lehrkräfte sind keine Seltenheit. Kinder sind unsere Zukunft und jede Investition in ihre Bildung ist im wahrsten Sinne des Wortes goldwert. Keine andere Investition bringt volkswirtschaftlich eine so hohe Rendite für den Staat. Bildung ist unsere stärkste Waffe gegen Armut und hilft Menschen ihren Stärken entsprechend am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Die Zukunft gehört dem digitalen Lernen. Hierfür brauchen wir internetkompetente Lehrer. In der Schule sollten junge Menschen die notwendige Medienkompetenz vermittelt bekommen, um den bewußten Umgang mit digitalen Medien zu lernen. 

Befristete Arbeitsverhältnisse, viele Niedriglohn-Jobs, drohende Altersarmut und steigende Preise auf dem Immobilien- und Wohnungsmarkt. Wie lassen sich diese gegensätzlichen Themenkomplexe miteinander in Einklang bringen?

Der gesetzliche Mindestlohn trägt die sozialdemokratische Handschrift. Er beträgt 8,84 Euro pro Stunde. Diese Höhe reicht nicht aus, damit man nachher eine anständige Rente erhält. Selbst wenn zwei Personen in einem Haushalt arbeiten, wird ein Großteil des Verdienstes für die Miete verwendet werden müssen. Ein spürbare Erhöhung des Mindestlohnes ist unumgänglich. Neben der Mietpreisbremse und deren Überwachung auf dem Immobilienmarkt sind die Arbeitgeber gefordert, unbefristete Verträge zu geben. Es darf keine sachgrundlosen Befristungen geben. Im Märkischen Kreis ist Leiharbeit weit verbreitet. Leiharbeiter sollten mindestens das gleiche verdienen wie die Stammbelegschaft; am Besten gehört sie abgeschafft. Die im Berufsleben stehenden Menschen oder auch arbeitslose Menschen brauchen eine gute berufliche Qualifikation, weil die Anforderungen im Beruf immer mehr und komplexer werden. Die langzeitarbeitslosen Menschen brauchen besondere Förderprogramme und unterstützende Fachleute, die viel Geduld und Kenntnisse in schwierigen Lebensläufen mitbringen.
 
15.000 Polizeistellen mit der SPD


Der Diesel-Skandal löst seit kurzem heftige Debatten aus, bei Windenergie und erneuerbaren Energien handelt es sich bereits seit längerem um Streitthemen. Wo und wie positionieren Sie sich in Sachen Umweltpolitik?


Hier sehe ich die Automobilindustrie in der Pflicht, weil sie Vertrauen verloren haben und für entstandenen Schaden haften müssen. Das nennt man Verantwortung zu übernehmen. Mit einem Softwareupdate verwischt man nur eine Problematik. Die Hardware gehört auf Kosten der Hersteller erneuert und keineswegs auf Kosten der Steuerzahler. Bei der Windenergie hat die CDU/FDP seinerzeit den Bau der Windkraftanlagen befürwortet und jetzt macht sie einen Rückzieher. Das ist politisches Kalkül. Windkraftanlagen bringen saubere Energie. Sie dürfen aber nicht zur Rodung von Waldflächen führen. Damit würden wir vorerst die Umwelt zerstören und um dann eine umweltfreundliche Energie zu nutzen. Das ist ein Widerspruch in sich. Windkraftanlagen können auf Flächen angebracht werden, die keine gesundheitliche Schädigung des Menschen und keine Umweltzerstörung mit sich bringen.

Angesichts der Terroranschläge, die in den vergangenen Monaten in Europa verübt worden sind, ist die Debatte um innere Sicherheit wieder hochaktuell. Braucht es mehr innere Sicherheit – und falls ja, wie genau sollte das Ihrer Meinung nach aussehen?

Selbstverständlich braucht es mehr Personal und eine bessere technische Ausstattung der Sicherheitskräfte sowie eine bessere Überwachung von öffentlichen Plätzen. Mit der SPD wird es 15.000 neue Polizeistellen geben. Eine bessere Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden der Länder ist notwendig. Es kann nicht angehen, daß ein Anschlag in Berlin passiert und die Schuld einer einzigen Landesbehörde angehängt wird, wobei der Täter schon mehrere Landesgrenzen passiert war. Hier muss der Innenminister endlich handeln und sich nicht hinter bürokratischen und regulativen Hindernissen einzelner Ländern verstecken. Es kann nicht sein, dass jedes Land sein eigenes Konzept hat und meint, die Sicherheit würde an der eigenen Ländergrenze aufhören. Eine bessere Vernetzung und ein schneller Informationsaustausch zwischen den europäischen Ländern und international ist nötiger denn je. Kein Terroranschlag wird langfristig nur durch mehr Polizeipräsenz verhindert werden können. Es muss schnellere Asylverfahren geben, auch dafür ist das BAMF als Resort des Innenministers zuständig. Wer keine Gründe für ein politisches Asyl vorweisen kann, kann das Asylrecht nicht genießen. Gefährder müssen schnell abgewiesen werden. Bei der Vorbeugung von Terroranschlägen sehe ich die Prävention als den langfristig entscheidenden Faktor, um Radikalisierung zu vermeiden
bzw. rechtzeitig zu erkennen und gegenzusteuern.
„Für gelungene Integration Inklusion unumgänglich“
Lennestadts Bürgermeister Stefan Hundt sagte kürzlich, in seiner Stadt sei das „Ankommen“ der Flüchtlinge geschafft. Jetzt müsse der Fokus auf die Integration der Menschen gelegt werden. Teilen Sie diese Ansicht? Und welche Potentiale sehen Sie für Gesellschaft und Arbeitsmarkt?

Wenn die Menschen ein Dach und ausreichend zu essen haben, fängt der Hauptteil der Integration an. Das Erlernen der Sprache ist unumgänglich, die Beschaffung von Arbeit, die gesellschaftliche Integration im Kindergarten und Schule und Alltag ist ein langwieriger Prozess. Ohne das vorbildliche bürgerliche Engagement wäre auch das erste Ankommen der Flüchtlinge nicht gemeistert worden. Dafür gebührt allen im Ehrenamt tätig gewordenen Menschen ein großes Dankeschön. Diese Integration sollte fortgeführt werden, in dem man die Flüchtlinge mit unseren Gebräuchen und Sitten bekannt macht. Eine Ghettoisierung ist unbedingt zu vermeiden. Für eine gelungene Integration ist die Inklusion der Flüchtlinge in der Ausbildungs- und Arbeitswelt unumgänglich.

AfD, Pegida und besorgte Bürger: Seit der Flüchtlingskrise finden rechtspopulistische und offen fremdenfeindliche Thesen vermehrt Gehör und Verbreitung. Wie beurteilen Sie das?

Es macht mir große Sorgen mit welcher Menschenverachtung und Vehemenz rechtspopulistische Thesen Gehör finden. Ihr Ton ist aggressiv, primär menschenfeindlich und volksverhetzend. Deutschland hat das schon mal voll durchgemacht. „Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“
„Deutschland braucht ein Einwanderungsgesetz“
Welche Themen, die in diesem Interview bislang noch nicht angesprochen wurden, noch nicht genannt wurden, verfolgen Sie außerdem?

  • Die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern bei gleicher Qualifikation und gleicher Arbeit ist ein Skandal, welches zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
  • Menschen sollten das Recht haben, von einer Teilzeitstelle wieder in eine Vollzeitstelle zurück zu kehren.
  • Deutschland braucht ein Einwanderungsgesetz, welches klar regelt, wer in unser Land legal einreisen darf und wer nicht.
  • Die SPD ist gegen die Steigerung der Rüstungsausgaben. Stattdessen sollte die personelle und technische Ausstattung der Bundeswehr verbessert werden und mehr Personal bei der Polizei und im Sicherheitsbereich eingestellt werden.
  • Neben der Förderung der Digitalisierung sollte die E-Mobilität gestärkt werden. Start-up- Unternehmen brauchen Unterstützung.

Vervollständigen Sie abschließend folgenden Satz:
Sie sollten in den Bundestag einziehen und den Wahlkreis 149 in Berlin vertreten, weil...

..ich bürgernah bin und mich den Sorgen und Nöten der Bürgerinnen und Bürger verpflichtet fühle. Im gesundheitspolitischen Bereich möchte ich meine Fachexpertise einbringen und stehe für eine kinder- und familienfreundliche Politik.
Zur Person
Alter: 51

Wohnort: 57439 Attendorn

Familienstand: verheiratet

Beruf: Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin

Parteimitglied seit: 1984

Bisherige und aktuelle politische Ämter: Sprecherin SPD-Kreistagsfraktion im Ausschuss Soziales und Gesundheit, Vorstandsmitglied im Kreisverbandsvorstand Olpe, sachkundige Bürgerin Schulen, Kultur und Denkmalschutz der Hansestadt Attendorn, Vorstandsmitglied Ortsverein Attendorn, Kreisvorsitzende der AG Migration und Vielfalt Kreis Olpe.

Politisches Vorbild: Helmut Schmidt

Hobbys: Sport

Ihre drei stärksten Eigenschaften: Ehrlichkeit, Mut, Durchsetzungsfähigkeit

Ihre drei Schwächen: Kaffee, Kuchen, Perfektionismus
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