„Keiner wollte mit nach Deutschland - alle möchten zurück in die Heimat“

Eine Woche nach ihrer Tour: Alina und Marie blicken zurück


  • Lennestadt, 18.03.2022
  • Politik
  • Von Kerstin Sauer
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Alina (2.v.r.) und Marie (r.) mit einigen Helfern vor Ort an der ponlisch-ukrainischen Grenze. Was sie dort erlebt haben, hat die Schwestern nachhaltig beeindruckt. von privat
Alina (2.v.r.) und Marie (r.) mit einigen Helfern vor Ort an der ponlisch-ukrainischen Grenze. Was sie dort erlebt haben, hat die Schwestern nachhaltig beeindruckt. © privat

Meggen. Genau eine Woche ist es her, dass sich Alina Yesilagac (26) und Marie Kürpick (22) auf den Weg nach Przemysl an die polnisch-ukrainische Grenze gemacht haben (LokalPlus berichtete). In einem Transporter, der bis unters Dach gefüllt war mit Hilfsgütern. Die Schwestern sind wieder zurück in Meggen, der Bulli leer – und das, was die beiden vor Ort erlebt haben, werden sie wohl nie wieder vergessen.


LokalPlus stand während der gesamten Tour in Kontakt mit Alina und Marie. Wichtige Begebenheiten und besondere Momente teilten sie mit unseren Lesern. Auch den Blick zurück, jetzt, eine Woche danach.

Viele Menschen hätten mit ihnen mitgefiebert, wissen Alina und Marie. Ständig erreichten sie Nachrichten von Freunden und Familie, etliche Schutzengel und Glücksbringer begleiteten sie auf ihrer Fahrt, die in der Nacht auf Freitag, 11. März, um 3 Uhr begann und rund 40 Stunden dauern sollte.

„Schon was wir unterwegs gesehen haben, war beeindruckend“, erzählt Alina. In Polen sei die Solidarität der Menschen so unglaublich groß gewesen, überall wehten Ukraine-Flaggen oder blinkten Nummern von Hilfe-Hotlines für die Geflüchteten auf.

Vor einer Woche waren Alina (r.) und Marie auf dem Weg zur polnisch-ukrainischen Grenze. Was sie dort erlebt haben, darüber berichteten sie in LokalPlus. von privat
Vor einer Woche waren Alina (r.) und Marie auf dem Weg zur polnisch-ukrainischen Grenze. Was sie dort erlebt haben, darüber berichteten sie in LokalPlus. © privat


Aus Versehen fuhren die Schwestern bis ins Grenzgebiet. „Wir waren nur 300 Meter von der ukrainischen Grenze entfernt“, erinnert sich Alina. Und Marie fügt hinzu: „Das Navi sagte in Dauerschleife: Bitte wenden. Bitte wenden. Bitte wenden.“

Polizei, Militär, Sirenengeheul am laufenden Band

Das Bild, das sich den jungen Frauen am Ziel bot, werden sie nie vergessen: „Wir hatten den Eindruck: Hier herrscht kein Gesetz mehr. Überall war Chaos“, erzählt Marie. Das zivile Leben sei lahmgelegt, alles drehe sich nur noch um die tausenden Flüchtlinge, die in Przemysl Schutz suchen. „Überall war Polizei, ständig wurden wir von Militärbussen überholt und es gab keine Sekunde, in der keine Sirene heulte“, berichtet Marie weiter.

An einen für beide entsetzlichen Moment erinnern sich Alina und Marie genau: „Ein Zug fuhr an uns vorbei. Alt und verbeult. Erst als wir genau hingesehen haben, konnten wir erkennen, dass der Zug überfüllt war mit Menschen aus der Ukraine. Mütter wurden an die Fenster gedrückt und hielten ihre Kinder fest umklammert.“

Im Grenzgebiet fuhr ein Zug aus der Ukraine an den Schwestern vorbei, in dem sich viele, viele ukrainische Flüchtlinge drängten. von privat
Im Grenzgebiet fuhr ein Zug aus der Ukraine an den Schwestern vorbei, in dem sich viele, viele ukrainische Flüchtlinge drängten. © privat

Anblicke und Erfahrungen wie diese sollten sich von nun an aneinander reihen.

Da war das erste Zusammentreffen mit Notarzt Dr. Peter Haarmann, der seit etlichen Tagen vor Ort war, um zu helfen. Der in dem selben Gebäude – einem Riesen-Einkaufszentrum – untergebracht ist wie 50.000 Flüchtlinge aus der Ukraine, in Eiseskälte, nur zehn Duschen für alle Menschen vor Ort. Im Gespräch mit den Meggener Schwestern fließen bei dem Arzt die Tränen. „Er war völlig ergriffen. Und erschöpft“, sagt Alina.

Die Erinnerung erschüttert sie und ihre Schwester immer noch. Wie dankbar der Arzt Rollatoren, Thermodecken, Kerzen, Medikamente und Infusionsständer entgegennahm, um sie am nächsten Tag in die Ukraine zu schicken.

Schwarze Schafe unter den Flüchtlingen

Da waren die ersten Informationen über zahlreiche Personen, die sich unter die Flüchtlinge mischen, um in deren Strom unbemerkt nach Europa zu gelangen. Und sich vorher an zahlreichen Spendenartikeln bedienen. Alina: „Irgendwann fiel den Helfern auf, dass diese Menschen immer wieder an die Stände kamen, wo die Hilfsgüter verteilt werden.“ Seitdem sind Polizei und Militär in Scharen vor Ort, um die schwarzen Schafe auszusortieren.

Da waren die Menschen, die Lagerfeuer entzündet hatten, Gitarre spielten und sangen. Für die Flüchtlinge, mit den Flüchtlingen. Menschen aus Polen, Italien, Spanien – „so viele Nationalitäten, die den Menschen etwas geben wollten. Und ihnen Hoffnung und ein Lächeln schenken wollten.“

„Es war so fürchterlich kalt“

Da war die Frau mit dem Kind auf dem Arm. Beide komplett blau angelaufen. „Es war so fürchterlich kalt“, erinnert sich Marie.

Und da waren die vielen kranken, leidenden, traurigen Menschen, die an der Grenze ausharren wollen – weil sie sicher sind, dass sie bald wieder in ihre Heimat zu ihren Lieben dürfen. „Keiner wollte mitgenommen werden nach Deutschland“, berichtet Alina. Alle wollten wieder nach Hause.

Knapp 40 Stunden, nachdem sie in Meggen gestartet waren, wurden Alina und Marie dort auch wieder von ihrer Familie empfangen. Müde, erschöpft, aber um unfassbar viele Erfahrungen reicher. Und – würdet ihr so eine Tour nochmal machen? Die Antwort der Beiden kommt sofort: „Ja. Dann aber nur mit Medikamenten und Decken – das wird am meisten gebraucht.“

„Die Hilfsbereitschaft darf nicht nachlassen“

Bis dahin helfen Alina und Marie weiter von Meggen aus. „Ich habe heute viele Grabkerzen gekauft. Sie brennen am längsten“, erzählt Alina. Und sie sucht nach Powerbanks, damit die Flüchtlinge ihre Handys aufladen und in die Heimat telefonieren können. „Die Hilfsbereitschaft darf nicht nachlassen“, mahnen die Schwestern eindringlich. Denn sie haben gesehen, wie dringend die Hilfe vor Ort gebraucht wird.

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