Wenn der Alkohol das Leben zeichnet: Eine Pflegemutter klärt auf
Familienalltag mit FASD
- Kreis Olpe, 09.09.2024
- Gesundheit & Medizin , Verschiedenes
- Von Lorena Klein
Kreis Olpe/Attendorn. Kein Alkohol während der Schwangerschaft, das wissen die allermeisten. Trotzdem ist Alkohol der Auslöser für die in Deutschland am häufigsten angeborene Behinderung. Fetale Alkoholspektrumstörungen (FASD) begleiten Kinder ein Leben lang, sind vielschichtig und von außen oft nicht sichtbar, weiß Michaela Gangler aus Attendorn. Beide ihrer Pflegekinder haben FASD. Die Pflegemutter setzt sich für Aufklärung und Austausch rund um das Thema ein.
Michaela und Ralph Gangler, Joana und Leo. Pflegemutter und -vater, Pflegetochter und -sohn. Eine Familie, die zusammenhält. Auch wenn der Alltag vielleicht etwas mehr Ordnung und Struktur, etwas mehr Geduld und Disziplin braucht als in anderen Familien.
Joana ist elf Jahre alt und besucht die Realschule, der siebenjährige Leo ist an einer Förderschule. Beide Kinder leben mit derselben Behinderung: einer Fetalen Alkoholspektrumstörung. Ihre Mütter haben während der Schwangerschaft Alkohol getrunken. Die Schäden werden Joana und Leo ein Leben lang begleiten.
„Die Behinderung hat so viele unterschiedliche Gesichter“, erzählt ihre Pflegemutter Michaela Gangler. Das weiß sie nach zwei individuellen Wegen bis zur Diagnose. Die erklärte, warum Joana damals so klein und zierlich war, beim Toben kaum Schmerzempfinden hatte, sie zu Wutausbrüchen neigte und später in der Vorschule mehr Zeit für ihre Aufgaben brauchte.
Und warum Leo solch einen „schweren Start ins Leben“ hatte, spät sitzen, krabbeln und sprechen konnte. Doch das kratzt nur an der Oberfläche dessen, was FASD für die beiden Kinder bedeutet. Vor allem gehört oft auch dazu, von Außenstehenden nicht verstanden zu werden.
„Die Behinderung ist eben unsichtbar und man muss sich immer wieder erklären“, so Michaela Gangler. Zum Beispiel, wenn es mal etwas länger dauert, es mal etwas turbulenter zugeht oder auf einen Fehler nochmal genau derselbe folgt. Ein strukturierter Alltag ist das A und O. Und Durchhaltevermögen. „Boah, was bist du denn für eine strenge Mama“, würden sich einige vielleicht gelegentlich denken, nimmt es die 49-Jährige mit Humor.
Als der Verdacht auf FASD erstmals bei Joana im Raum stand, war das Thema für Michaela Gangler selbst komplettes Neuland. Heute habe sie das Gefühl, dass nicht nur Schulen und Kindergärten – und die Schule sei für betroffene Familien generell ein „großes Thema“ –, sondern teils auch Hebammen und Ärzte immer noch nicht ausreichend darüber informiert seien.
In einem Gesprächskreis für Eltern lernte Michaela Gangler vor einigen Jahren Astrid Wohlrab aus Wenden kennen, die selbst Pflegemutter von zwei jungen Erwachsenen mit FASD ist. Mit Unterstützung der DRK-Selbsthilfe-Kontaktstelle in Olpe haben die beiden Frauen nun ihre eigene Selbsthilfegruppe gegründet. Dort möchten sie Angehörigen und Betroffenen den Austausch ermöglichen. Außerdem gehen die beiden Pflegemütter als ausgebildete FASD-Fachkräfte in unterschiedliche Einrichtungen, um über das Thema aufzuklären.
Dazu gehört auch, es gar nicht erst so weit kommen zu lassen. „Es ist eine Behinderung, die zu 100 Prozent vermeidbar ist“, betont Michaela Gangler. Und nicht immer seien es die Kinder alkoholabhängiger Mütter: Der eine Schluck am falschen Tag zum falschen Zeitpunkt könne schon zu viel sein.
„Kinder mit FASD sind wie trockene Alkoholiker“, erklärt Michaela Gangler. Im Laufe ihres Lebens hätten sie deswegen auch ein höheres Risiko, selbst in eine Abhängigkeit zu rutschen. Auch hier sind also Prävention und Vorsicht angesagt.
In der Schule laufe es bei Joana aktuell gut, freut sich die Pflegemutter. „Aber sie muss sich auch doppelt so viel anstrengen.“ Sie habe gute Freunde und tanze für ihr Leben gern. Leo sei durch FASD deutlich stärker eingeschränkt und nehme mittlerweile Medikamente, die ihm helfen, erklärt Michaela Gangler.
„Das ist unsere Geschichte“, betont sie. Den vielen anderen Geschichten Betroffener und ihrer Angehörigen möchte sie mit ihrem Engagement ein offenes Ohr schenken.
Über FASD und das Selbsthilfe-Angebot
Die Fetale Alkoholspektrumstörung (FASD: Fetal Alcohol Spectrum Disorder) ist in Deutschland die am häufigsten angeborene Behinderung, mit der vielseitige körperliche als auch geistige Einschränkungen einhergehen können.
Auslöser ist der Alkoholkonsum während der Schwangerschaft. An die lebenslangen Schäden, mit denen Betroffene leben müssen, erinnert der Welttag des alkoholgeschädigten Kindes am heutigen Montag, 9. September. Der Tag markiert auch den Start der Selbsthilfegruppe von Michaela Gangler und Astrid Wohlrab. Weitere Informationen zu dem Angebot erhalten Interessierte per E-Mail an fasd-shg-olpe@web.de oder bei der DRK-Selbsthilfe-Kontaktstelle unter Tel. 02761 / 2643.
Quellen: FASD Deutschland e. V., FASzierenD.org