Kein Abschiedsbrief und viele Fragen – was bleibt, sind die Erinnerungen

Tabuthema Tod


  • Kreis Olpe, 10.09.2023
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  • Von Nils Dinkel
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Symbolfoto. von pixabay.com
Symbolfoto. © pixabay.com

Kreis Olpe. Einen Themenschwerpunkt setzt LokalPlus anlässlich des Welttages der Suizidprävention am heutigen Sonntag, 10. September. Wie ein Suizid in der engsten Familie das eigene Leben beeinflusst, das schildert LP-Fotograf Nils Dinkel in seinem ganz persönlichen und offenen Bericht.


In diesem Artikel geht es um Suizid und den Tod eines geliebten Menschen. Wenn dich das Thema selber belastet und extrem negative Emotionen auslöst, solltest du den Artikel nicht lesen.

„2008 wird mein Jahr“ – das ließ meine Mutter vor mehr als 15 Jahren euphorisch verlauten. Den Spruch hing sie sogar im Haus auf. Es sollte das Schlimmste werden. Bis heute knabbert meine Familie an einem Ereignis im Februar 2008: Als mein Vater sich dazu entschied, Selbstmord zu begehen. Bis heute weiß niemand, warum.

Ich war gerade 18 Jahre alt; meine jüngste Schwester 7. Plötzlich war meine Mutter Witwe; meine Geschwister und ich Halbwaisen, meine Oma musste ihren Sohn beerdigen und meine Onkel und Tanten den Verlust ihres Bruders verarbeiten. Die Welt war plötzlich eine andere und leer.

Mein Vater war angesehen, gesellschaftlich integriert, fleißig und engagierte sich in der Feuerwehr. Anzeichen dafür, dass es ihm psychisch schlecht ging, gab es nicht. Mögliche gesundheitliche Indikatoren gab es ebenfalls nicht. Er machte es mit sich aus. Was? Ein Rätsel. Aber: Er hat „es“ durchgezogen. Kein Abschiedsbrief, keine Klarheit und viele Fragen.

Warten auf bekannte Scherze

Plötzlich war er weg. Mehr als einen Tag lang haben wir ihn damals gesucht. Auch seine Kameraden der Feuerwehr halfen bei der Suche mit. Gefunden wurde er aber dann doch von seiner Familie – das hatte er wohl so nicht auf dem Zettel.

„Nils, dein Papa ist tot“, sind Worte, die ich wohl niemals vergessen werde. Als das bei mir ankam, musste ich erst einmal raus aus unserem Haus und hörte die Totenglocken für meinen Vater. Im Jugendtreff wurde ich von vertrauten Menschen aufgefangen. Tagelang konnte ich nichts essen, so schwer lag mir der Tod im Magen. Bis mich die Eltern einer Freundin, bei der ich in den Tagen viel Zeit verbrachte, „zwangen“, etwas zu essen.

Halt in dieser schwierigen Zeit war TV- und Radio-Talker Jürgen Domian, mit dem ich wenige Tage nach den Geschehnissen nachts meine Trauer teilen durfte – von jenem Sofa aus, auf dem mein Vater oft eingeschlafen ist. Zwei Mal besuchte ich ihn noch in der Leichenhalle. Er sah aus, als würde er in der nächsten Sekunde einen seiner bekannten Scherze machen. Doch dem war nicht so. Ich streichelte seine Schulter. Ich musste die Kälte spüren.

Ganz allein in einer proppenvollen Kirche

Es zu realisieren, war trotzdem noch weit entfernt. Als letzten Gruß steckte ich ihm eine Zigarette zu, die ich mit ihm irgendwann rauchen werde. Zur Beerdigung war die Kirche proppenvoll, aber ich ganz allein. Mein bis heute bester Freund geleitete mich, völlig spontan, auf den schlimmsten Metern meines Lebens.

Alles was bleibt, sind die Erinnerungen. Sein Ehrenbecher für 40-jährige Mitgliedschaft bei den Blauröcken steht noch heute in meinem Wohnzimmer – eine der wenigen Hinterlassenschaften. Auch eine Fotocollage hängt hier. Daneben habe ich sein Gladbach-Trikot und seinen alten Trainingsanzug hier.

Überwunden habe ich den Tod meines Vaters bis heute nicht. Aber ich kann damit leben. Zeitweise kamen sogar bei mir Gedanken in Richtung Freitod. Aber, keine Frage, ich möchte keinem der von mir geliebten Menschen solch unermessliches Leid antun.

Mehrere Klinikaufenthalte

Mehrfach bin ich in verschiedenen Kliniken gewesen und war jahrelang in psychologischer Betreuung. Eine Hilfe? Bestimmt, aber Wunder darf man nicht erwarten. Am Ende hab ich mir selbst in den Arsch getreten und den Kopf aus dem Sand gezogen.

Jahrelang hatte ich mich bis dahin selbst bemitleidet, bis ich mich irgendwann gefragt habe, ob ich den Rest meines Lebens von einem Tag in meinem Leben und einer getroffenen Entscheidung eines anderen Menschen abhängig machen will. Die Antwort war und ist nein.

Hol dir Hilfe:

Am Sonntag, 10. September, ist Welttag der Suizid-Prävention. Du kannst dir unter anderem hier Hilfe holen: Tel. 0800 / 111 0 111. Die Telefonseelsorge ist 24 Stunden erreichbar.

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