Gemischte Gefühle und Wunsch nach Kontinuität

Streitthema "Turbo-Abitur": Gymnasial-Rektoren sehen aktuelle Diskussion eher skeptisch


Die Anmeldezahlen am Rivius Gymnasium in Attendorn sind nach der Einführung des G8-Abiturs zurückgegangen. von Barbara Sander-Graetz
Die Anmeldezahlen am Rivius Gymnasium in Attendorn sind nach der Einführung des G8-Abiturs zurückgegangen. © Barbara Sander-Graetz

Aktuell wird das Abitur nach zwölf Jahren (G8), auch bekannt unter dem Namen „Turbo-Abi“, wieder besonders kontrovers diskutiert. Als erstes Bundesland hat das Land Niedersachsen entschieden, wieder vollständig zum Abitur nach 13 Jahren (G9) zurückzukehren. In NRW fordert die FDP jetzt Wahlfreiheit für die Schulen, während die SPD über eine Strukturreform für das G8-Abitur nachdenkt. Und während Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) neue Reformen kürzlich ablehnte, will sich Schulministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) im Spätherbst erneut mit Interessengruppen wie Eltern- und Lehrervertretungen zusammensetzen. Und wie bewerten die Schulleiter der sechs Gymnasien im Kreis Olpe das „Turbo-Abi“?


In einigen Punkten sind sich die Rektoren weitestgehend einig: Die Frage, ob man für oder gegen das Abitur nach zwölf Jahren ist, ist nicht leicht zu beantworten. In einer Schulleiter-Runde des Kreises Olpe seinen grundsätzlich alle der gleichen Ansicht gewesen, sagt Berthold Schleime vom Gymnasium Maria Königin aus Lennestadt. Einfach wieder zum G9-Modell zu wechseln, sei keine Option und im Augenblick auch nicht die richtige Lösung. Die dauernden Änderungen der schnelleren Variante seien vielmehr das eigentliche Problem und führten lediglich zu weiteren Verunsicherungen, vor allem auf Seiten der Eltern. „Jetzt schon wieder neue Verbesserungsvorschläge zu bringen, sorgt nur für unnötige Unruhe. Das hilft der Bildungslandschaft überhaupt nicht“, sagt auch Schulleiterin Dr. Gerlis Görg vom St.-Franziskus Gymnasium aus Olpe. Außerdem würde dies wieder einen Umbruch in der Beschulung bedeuten und mehr Lehrkräfte wären nötig. Zusammengefasst: Mehr Komplikationen als Lösungen. Und Rudolf Hermanns vom Rivius Gymnasium Attendorn betont: „Ich wünsche mir seit längerem eine Schule, die nicht permanent von außen unter Druck gesetzt wird.“
Zeit als wichtiger Faktor
Die Schulen benötigten in erster Linie Zeit, damit sich alles richtig einspielen kann und die Änderungen zu G8 komplett umgesetzt wären. Schulleiter Berthold Schleime aus Lennestadt erklärt: „Die Umstellung von G9 auf G8 war ein langwieriger Prozess und funktionierte nicht vom einen auf den anderen Tag. Die Kollegen und Schüler mussten erst einmal umdenken und der Unterricht in den Nachmittag hinein ausgeweitet werden.“ Seiner Meinung hätte es beim klassischen G9-Modell bleiben sollen, aber diese Entscheidung hätte man im Vorfeld treffen müssen - und nicht jetzt nach den ganzen Umstellungen. Zustimmung kommt aus Olpe von Gerlis Görg: „Ich habe schon mit dem Begriff ,Turbo-Abi´ so meine Probleme. Denn es suggeriert schon im Vorfeld, dass die Schüler nur Stress und Hektik hätten. Man sollte erst einmal abwarten, bevor man etwas Neues probiert. Ich bin absolut gegen Schnellschüsse.“
Kontinuität an Schulen und Elternwille
Einige Schulleiter sind aber zweifellos der Ansicht, dass das "Turbo-Abi" eine deutlich höhere Belastung darstellt. „Es gibt mehrere Stellen, an denen die Schüler sehr wohl zeitlichem Druck ausgesetzt sind“, erklärt Markus Ratajski vom St.-Ursula-Gymnasium Attendorn. Man könne das Abitur in acht Jahren schaffen, jedoch mit Einschränkungen. Die Eltern und Lehrer an seiner Schule würden mehrheitlich allerdings wieder das G9-Modell begrüßen, so der Schulleiter. „Ich bin ein großer Freund davon dem Elternwillen Genüge zu tun, aber das ist in diesem Fall leider nicht so leicht“, so Ratajski weiter. Die aktuelle Diskussion verfolgt der Schulleiter des Städtischen Gymnasiums Olpe, Holger Köster, hingegen relativ entspannt. Die Umstellung von G9 auf G8 sei an der Schule schnell und gut geschafft worden. Auch seitens der Eltern gebe es keine großen Probleme, und wenn es doch mal Schwierigkeiten bei einigen Schülern gebe, würde das nicht gleich am Abi nach acht Jahren festgemacht. „Wir sind nicht unglücklich damit. Die dauernden Änderungen sind das eigentliche Problem“, meint Köster.
Schülerzahlen an Gymnasien sind rückläufig
Negative Auswirkungen habe die G8-Auswirkungen jedoch am Rivius-Gymnasiums nach sich gezogen, wo die Anmeldezahlen nicht mehr stabil seien, sondern stattdessen sogar rückläufig. Die Anmeldezahlen an den Real- und Sekundarschulen seien dagegen hingegen geradezu explodiert, sagt Rudolf Hermanns. Viele Eltern würden also auf Umwegen versuchen für ihre Kinder G9 anzustreben. „Diesen Wandel spüren wir sehr deutlich“, sagt Hermanns. Werner Hücking vom Gymnasium der Stadt Lennestadt sieht Erfolgschancen für beide Abi-Varianten - wenn genug Zeit zur Entwicklung eingeräumt werde. Und er gibt zu bedenken, dass bis 2016 noch die alten Lehrpläne für das G9 galten, was "natürlich kaum umsetzbar war und für eine Menge Unzufriedenheit sorgte". Erst jetzt könne man sehen, ob die G8-Variante funktioniert. Deshalb sollte man die kommenden Abiturjahrgänge erst einmal abwarten und fundierte Erkenntnisse sammeln, bevor man wieder alles neu strukturiert.
Bildungspolitik an Forschung und gesellschaftlicher Realität ausrichten
Hücking ist jedoch der Meinung, dass man die Entscheidung über G8 oder G9 nicht in die Hände der Schulen oder der Stadt legen sollte. „Das führt nur dazu, dass man deutschlandweit keine einheitlichen Schulformen und Bildungsstandards mehr hat.“ Er würde sich eine Bildungspolitik wünschen, die sich an der Forschung und der gesellschaftlichen Realität orientiert und nicht alle 5 Jahre geändert wird. Abschließend fragt Hücking: „Ausgangspunkt für G8 war, dass die Schüler früher in die Erwerbstätigkeit gehen können. Doch sollte man sich jetzt fragen: Haben wir das Ziel erreicht oder sind wir darüber hinausgeschossen?“
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