„Die stille Reserve ist eine riesengroße Chance"

Dr. Bettina Wolf von der Agentur für Arbeit im Interview, Teil 2


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Dr. Bettina Wolf, Geschäftsführerin der Agenturen für Arbeit in Siegen und in Wuppertal, und Pressesprecher Thomas Becker waren am Donnerstag zu Besuch bei LokalPlus. von s: Matthias Clever
Dr. Bettina Wolf, Geschäftsführerin der Agenturen für Arbeit in Siegen und in Wuppertal, und Pressesprecher Thomas Becker waren am Donnerstag zu Besuch bei LokalPlus. © s: Matthias Clever

Seit siebeneinhalb Jahren leitet sie die Geschäftsführung der Arbeitsagentur Siegen. Am Mittwoch, 1. Juli, hat Dr. Bettina Wolf außerdem die Verantwortung für die Arbeitsagentur Solingen-Wuppertal übernommen. In einem großen zweiteiligen Interview mit LokalPlus-Redakteur Sven Prillwitz spricht Bettina Wolf über Ihren neuen Aufgabenbereich und den Arbeitsmarkt in Südwestfalen mit seinen Herausforderungen und Chancen. Im zweiten Teil geht es um Mini-Jobs und befristete Beschäftigungsverhältnisse sowie die Chancen, die Flüchtlinge und eine „stille Reserve“ für den Arbeitsmarkt in Südwestfalen sein können.


Laut Arbeitsmarktbericht für den Juni ist die Anzahl der freien Ausbildungsstellen im Kreis Olpe im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen. Das spricht – mit Ihren Worten – für die „gute und stabile wirtschaftliche Lage“. Ist das aber gleichzeitig ein Vorbote für den allgegenwärtigen demografischen Wandel?

Das ist nicht nur der Vorbote, das ist schon der demografische Wandel. Viele Menschen glauben, der kommt erst in zehn bis 15 Jahren. Er ist aber jetzt, im Jahr 2015, da. Es gibt schon jetzt viel weniger Schulabgänger. Für 2018 wird in diesem Bereich der nächste Break erwartet. Für das Viertel aller Erwerbstätigen, die demnächst altersbedingt ausscheiden, rückt niemand nach in den nächsten drei, vier Jahren. Schon ab diesem Jahr können wir die Nachfrage nach Auszubildenden nicht mehr komplett abdecken. Der demografische Wandel und der Kampf um die Köpfe ist nicht nur ein rechnerisches Phänomen, sondern Realität.

Neben der Alterung der Arbeitnehmer spielen auch die Themen Fachkräftemangel und Landflucht eine Rolle. Muss sich Südwestfalen eigentlich Sorgen machen?

Ja, natürlich. Aber Südwestfalen hat auch schon viel getan, damit wir das alles im Griff haben. Wir haben zehn Handlungsansätze definiert, an denen wir arbeiten müssen. Dazu gehören beispielsweise die Studienabbrecher, deren Zahl wir reduzieren wollen bzw. deren Potential wir durch Beratungs- und Vermittlungsangebote hier in der Region behalten wollen. Ein ganz wichtiges Handlungsfeld ist auch die Erwerbspartizipation von Frauen. Es gibt viele Frauen, die gut und sogar hervorragend qualifiziert sind, sich aber erstmal der Familie gewidmet haben. Diese „stille Reserve“ ist eine riesengroße Chance für unsere Region, das sind schätzungsweise 5000 Frauen.

„Die Rollenbindung in Südwestfalen ist konservativer"

Was den Schluss nahelegt, dass tradierte Rollenbilder vom Mann als Hauptverdiener und der Frau als Hausfrau noch immer in den Köpfen verankert sind.

Das ist ein gewisses Problem, das ungeheuer mühsam ist. Die Frauenerwerbsquote in Südwestfalen ist deutlich niedriger als in NRW und im Bund, weil die Rollenbindung hier konservativer und fester ist. Und damit gleichzeitig die gerade erwähnte „stille Reserve“ bindet. Um diesen riesigen Schatz nutzen zu können, müssen Familien dazu bereit sein, die Aufgabenverteilung zu Hause neu zu organisieren. Gleichzeitig müssen Arbeitgeber und vor allem kleinere Unternehmen flexiblere Konditionen am Arbeitsplatz ermöglichen, um Beruf und Familie vereinbarer zu machen. Dazu ist natürlich auch ein Vertrauensvorschuss nötig.

Sie haben angekündigt, Zuwanderer und Flüchtlinge intensiver in den Arbeitsmarkt integrieren zu wollen. Was versprechen Sie sich davon und welche Maßnahmen gibt es zu diesem Zweck?

Das ist ein weiterer Aspekt der zehn Handlungsansätze. Viele Menschen, die aus einer Notsituation heraus hierhergekommen sind, wollen wieder arbeiten. Leider ist die rechtliche Situation sehr komplex. Wir werben aber dafür, dass diese Menschen den Weg zu uns finden, und gehen auch gezielt auf sie zu. Viele Asylbewerber und Flüchtlinge sind gut qualifiziert und können dem Arbeitsmarkt weiterhelfen. Und diejenigen, die den Kommunen zugewiesen worden sind, können wir auch vermitteln, wenn sie die entsprechenden rechtlichen Voraussetzungen für eine Arbeitserlaubnis erfüllen. Ob die Voraussetzungen gegeben sind, prüfen wir gerne individuell.

Kommen wir nochmal zurück zu den positiven Zahlen des aktuellen Arbeitsmarktberichts. Stichwort Minijobs, Stichwort befristete Arbeitsverträge: Sind diese Zahlen geschönt?

Man kann das eine nicht gegen das andere aufrechnen. Ein befristeter Vertrag ist in der Statistik ein Arbeitsvertrag – und die Chance auf einen weiteren Vertrag, der dann auch ein unbefristetes Arbeitsverhältnis sein kann. Es ist sicherlich ein Phänomen unseres Arbeitsmarkts, dass die befristeten Beschäftigungsverhältnisse zugenommen haben. Sobald es bei der Nachfrage nach Personal aber mehr Engpässe gibt für die Betriebe, wird es wieder mehr unbefristete Verträge geben.

Und wie sieht es mit den Mini-Jobs aus?

Das muss man in dieser Region differenzierter betrachten. Hier gibt es viele Frauen, die Familie und Job unter einen Hut bringen wollen und bei denen der Wunsch nach einem Mini-Job groß ist. Wir haben hier sogar zu wenig Mini-Jobs, um diese an alle suchenden Frauen vermitteln zu können. Viele machen das ja auch, um einfach ein bisschen Geld dazuverdienen zu können.

Letzte Frage: Der Mindestlohn hat für Verwirrung gesorgt. Arbeitgeber beklagen außerdem einen erhöhten bürokratischen Aufwand und tricksen zum Teil bei der Bezahlung ihrer Angestellten. Wie fällt Ihr Fazit zum Mindestlohn nach knapp sechs Monaten aus?

Wir haben diesbezüglich viele Nachfragen gehabt, befinden uns in Südwestfalen aber in einer Region, in dem das Thema Mindestlohn kaum eine Rolle gespielt hat, weil die Unternehmen schon höhere Löhne zahlen. Viele Betriebe fühlen sich ein Stück weit beeinträchtigt durch die Neuregelungen, etwa durch die Dokumentationspflicht. Ich denke, die Komplexität des Gesetzes ist ein größeres Problem als die regionalen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt.

Zur Person
• Dr. Bettina Wolf ist 49 Jahre alt, verheiratet und Mutter einer 18-jährigen Tochter. • Seit Dezember 2007 ist sie Vorsitzende der Geschäftsführung der Arbeitsagentur Siegen. • Sie verantwortet dort das operative Geschäft der Siegener Agentur mit Geschäftsstellen in Olpe, Bad Berleburg und Burbach. • Zuvor war Dr. Wolf in verschiedenen Führungsfunktionen unter anderen in den Arbeitsagenturen in Hamburg, Hagen und Köln tätig.
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