„Corona verschlechtert die Lage für wohnungslose Menschen enorm“

Interview mit Streetworkerin


  • Attendorn, 13.04.2020
  • Von Angelika Brill
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Streetworkerin Carmen Decker erklärt, wie wohnungslose Menschen mit der Situation leben. von privat
Streetworkerin Carmen Decker erklärt, wie wohnungslose Menschen mit der Situation leben. © privat

Attendorn. Das Coronavirus und seine Folgen stellen den Alltag auf den Kopf. Was bedeutet das für wohnungslose Menschen? Die Anlaufstellen sind stark eingeschränkt und in den sozialen Einrichtungen herrscht nur noch Notbetrieb. LokalPlus sprach mit Carmen Decker, die seit 1998 als Streetworkerin in Attendorn arbeitet. Zusammen mit den Johannitern, der Stadt Attendorn und der Evangelischen Kirche kümmert sie sich um die Belange und Nöte der wohnungslosen Menschen.


Was hat sich durch die Corona-Krise für die wohnungslosen Menschen verändert?

Das Leben hat sich für uns alle verändert. Für die Wohnungslosen hat sich die Lage generell enorm verschlechtert. Die Alltagsstrukturen und das soziale Miteinander sind auf ein Minimum beschränkt oder sind ganz weggefallen.

Ist die Versorgungslage gesichert?

Nein, sie ist nicht gesichert, da viele caritative Sachen weggebrochen sind, wie zum Beispiel die Tafel, das Erwerbslosenfrühstück, das gemeinsame Kochen und der Mittagstisch von Förderband (kath. Hilfsorganisation). Für viele bedürftige Menschen in Attendorn bedeutet dies mit noch weniger oder gar nichts auskommen zu müssen.
Kirche verteilt Lebensmittel und Kleidung
Hilft die Bevölkerung?

Unterstützung gibt es seitens der Stadt Attendorn und der Johanniter. Großartige Hilfe leistet die Evangelische Kirche, indem sie Gutscheine ausstellt oder aus ihrem Fundus auch mal Nahrungsmittel oder Kleidung ausgibt.

Gibt es in Attendorn auch Gabenzäune mit Nahrungsmitteln?

Nein, gibt es in Attendorn nicht. Da leider auch die Tafel weggebrochen ist, werden somit aktuell keine Lebensmittel an Bedürftige ausgegeben. Aber Dank des Ideenreichtums von Claudia Schulte, einer engagierten ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Evangelischen Kirche, können einige kleine Löcher gestopft werden.
Aktuell gibt es keine Anlaufstelle
Inwiefern hat sich die Arbeit der regulären Anlaufstelle für Bedürftige verändert?

Da überall die Kontaktsperre gilt, gibt es zurzeit auch keine Anlaufstelle. Des Weiteren sind viele Hilfsangebote weggefallen, somit ist es für die Bedürftigen noch schwieriger als sonst. Durch die gemeinsamen Angebote hatte man eine engere Bindung zu ihnen, dadurch war die Beratung viel einfacher. Viele Dinge konnten direkt in die Wege geleitet werden. Per Handy sind sie kaum erreichbar. So bleibt nur das Aufsuchen, was aber auch Gefahren für die Mitarbeiter bedeutet.

Da viele Behörden, wie das Jobcenter oder Krankenkassen nur noch per Telefon oder online zu erreichen sind, ist es für die Wohnungslosen fast unmöglich, Anträge, Widerspruch oder ähnliches zu regeln. Selbst für uns ist es eine Herausforderung, die zuständigen Sachbearbeiter an die Strippe zu bekommen. Hierzu fehlt den Wohnungslosen in ihrer oft ausweglosen Lage die Geduld und das Guthaben auf dem Handy. Erreicht man mal jemanden, stößt man nicht immer auf Verständnis am anderen Ende der Leitung. Da werden einem auch schon mal „kreative“ Vorschläge gemacht, wie, dass der Antragsteller doch bei seiner Hausbank mal nachfragen soll wegen eines Kredites, damit er die Zeit überbrücken kann, bis das Amt die Miete übernimmt. Doch das Geld müsste ja auch irgendwann zurückgezahlt werden, somit wird die Bank ihnen bestimmt keinen Kredit gewähren.
Improvisieren und teilen
Wie kommen die Menschen durch die Corona-Zeiten?

Wie für uns alle ist es nicht einfach. Die jetzige Zeit ist nochmal eine Schippe drauf für die Wohnungslosen. Sie haben gelernt, mit wenig auszukommen, sind gut im Improvisieren. Sie helfen sich aber auch gegenseitig, teilen miteinander.

Was macht den Alltag besonders schwierig?

Die Einschränkungen, insbesondere Kontakt- und Versammlungsverbot, Versorgungsengpass, Arztbesuche usw. gestalten sich schwieriger. Wobei der Versorgungsengpass das größte Problem ist. Genauso wie wir leiden sie unter den Einschränkungen des sozialen Lebens.

Wie gehen die Wohnungslosen mit ihren Sorgen und Nöten um?

Ängste spielen in der jetzigen Zeit eine große Rolle, die schnell zu Depressionen führen können. Sorgen und Nöte schüren das Aggressionspotenzial. Natürlich haben sie Angst, dass sie oder ihre Freunde sich anstecken, auch weil sie wissen, dass sie zur Risikogruppe gehören. Eine Ansteckung würde für sie eine Katastrophe bedeuten.
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